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Großer Geiger

Venedigergruppe, 3360m, 8/2003


Von Thomas Rambauske

Intro

Die Voraussetzungen für Gletscherbegehungen waren in DIESEM Sommer 2003 nicht die besten. Eine monatelang andauernde Hitzeperiode hat den Gletschern zugesetzt; harmlose, ansonsten "spaltenfreie" Gletscher verwandelten sich in von Spalten und Klüften zerrissene Labyrinthe, Firnhänge in wahre Eispisten, Randspalten in unüberschreitbare Schluchten. Grund genug, mich einer von einem Bergführer geleiteten Gruppe anzuschließen. Warum? Weil nur ein erfahrener Bergführer einen Gletscher zu lesen und die Tücken des ewigen Eises zu interpretieren weiß. Und das traf, da spare ich gar nicht mit Lob, bei Harry Höll, dem paragleitenden Big-Wall-Kletterer und Guide der Alpinschule Laserer, voll zu. Denn er ermöglichte uns nicht nur das, wofür man einen Bergführer in erster Linie bezahlt, nämlich die sichere Rückkehr nach Hause, sondern auch, wofür man ihn nur sekundär in Anspruch nimmt: unvergessliche Gipfelerlebnisse.

Der Große Geiger in der Venedigergruppe der Hohen Tauern erhebt sich als markantes Felshorn mit gleichmäßigen Graten zwischen Maurerkees im Süden und Obersulzbachkees im Norden.

Ich bin schon mit vielen Gruppen unterwegs gewesen, aber diese hier war einzigartig: Mehrheitlich Anfänger(innen) aus Ost-Österreich und Bayern, die im Laufe der Woche nicht nur zu einem eingeschworenen Team zusammen-, sondern auch über sich hinauswuchsen, die lernten mit Erschöpfung, Angst und Extremsituationen umzugehen und dabei noch stets gut gelaunt blieben.


Hüttenzustieg:

Streden (Parkplatz bei Hinterbichl im Virgental; 1403m) - Maurer Tal - Stoanalm (1469m) - Ochsnerhütte (1948m) - Essener & Rostocker Hütte (2207m)

HM ca. 800 m / GZ 2,5 Stunden

Die ersten zwei Stunden einer Hochtouren-Woche sind immer die schwersten: Die lange Anfahrt in den Beinen, den vollbepackten Rucksack auf dem Buckel und die Ungewissheit im Kopf.
Nach dem Abstellen der Gefährte auf dem Parkplatz bei Streden (4 Euro Parkgebühr) zum Aufwärmen auf der Forststraße entlang des Maurer Baches zur Stoan Alm (Einkehrmöglichkeit). Weiter taleinwärts dem markierten Weg und der Materialseilbahn folgend. Nach der Ochsnerhütte über eine Brücke und auf einem Moränenrücken bis hinauf zur Essener & Rostocker-Hütte. Übernachtung in der vollen, aber im Großen und Ganzen recht zufrieden stellenden DAV-Hütte. Bemerkenswert,

dass hier ein Schüler den Servier-Dienst alleine schupft und das mit stoischer Gelassenheit, dass Zimmer, Matratzenlager und Hygieneanlagen gerade erst eingeweiht zu sein scheinen, dass das Frühstück und Essen reichhaltig sind und die wechselhafte Geschichte der Hütte (siehe unten).


Route auf den Großen Geiger:

Essener & Rostocker Hütte (2207m) - Stredacher Winkl - Maurerkees - Großer Geiger (3360m)

GZ 7 Stunden im Aufstieg
   5 Stunden im Abstieg
/ HM 1150 m

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf um 5, Start um 6 Uhr Westalpenzeit, um zumindest im Aufstieg noch halbwegs festen Untergrund vorzufinden. Der Marsch von der Hütte in Richtung Nordwesten zu einer Wegkreuzung (Abzweigung Simonyspitzen), über den Maurerbach, wieder an einer Weggabelung (zum Türmljoch) vorbei und weit, weit ins Tal des Stredacher Winkls hinein lässt uns Zeit, in den Rhythmus zu kommen und uns geistig auf das Kommende einzustimmen.
Schweigen und langsames Dahintrotten. Noch ahnt keiner, dass sich die angeschriebenen 3,5 Stunden (!) zu einem Marathon von nahezu 12 Stunden auswachsen würden.
In leichtem Rechtsbogen ins Moränengeröll, schließlich die erste Berührung mit dem unter Kiesel und Geröll lauernden Eis. Lästiges Bergauf-Rutschen. Unsere Blicke schweifen immer wieder zu den Gletschern des Maurer-, Dorfer- und Simonykees hinauf - nein, sie sehen heuer nicht gut aus. Grau, schmutzig und in vielen Bächen ausrinnend, wie ungewaschene, staubbedeckte Laken bedecken die Gletscher die obersten Etagen. Das ohrenbetäubende Rauschen ringsum verrät das bedenkliche Siechtum des ewigen Eises. Nach 2,5 Stunden haben wir den Gletscher erreicht. Steigeisen, Gurte, Seil an, Marschordnung und auf geht's.

Harry scheint zunächst etwas gelangweilt - eine leichte Gletscherwanderung, Routine, nichts Besonderes..., was sich spätestens nach einer Stunde ändern wird. Als wir vom Südfuß des Kleinen Maurerkeeskopfes nach Osten schwenken, stehen wir plötzlich vor einer gewaltigen Randkluft, nein Randschlucht!, wo so sonst keine war. Harry wacht auf, ist er jetzt doch unvermutet mit all seiner Erfahrung gefordert und steht er vor einem selten selektiven Problem. Hier gibt es kein Weiterkommen. Er probiert's andersrum ... nein auch über den Felsen Sackgasse. Endstation. Wir befinden uns in einem bewegten Meer aus Rissen, Klüften und Abgründen. Wohin man auch blickt, kein Weg, nur bis 40 Meter tiefe Abgründe, Quer- und Längsrisse. Das muss das Ende der Unternehmung "Großer Geiger" sein, denke ich mir, sehe keine Möglichkeit, Hütte wir kommen! Irrtum.

Denn Harry ist ein Virtuose, ein Künstler, jemand der es versteht, Gletscher zu lesen. Ja, den Gletscher zu lesen, wie ein Buch, zu interpretieren, zwischen seine "Zeilen", sprich Schichten, zu blicken und nach der richtigen Deutung zu handeln. Wie das funktioniert? Einmal das Gesamtbild überblicken, die "Landkarte" des Gletschers deuten, ins Detail gehend den Ausgangspunkt betrachten, von allen Seiten prüfen, die Geheimnisse des Eises und Schnees entdecken. Harry geht immer wieder voraus, begutachtet Brücken, mustert, checkt sie von verschiedenen Seiten, stößt da und dort die Spitze seines Pickels in den Firn, um Zwischenschichten zu prüfen.

Wo liegen die Schwachstellen des Eises, wo dessen Stärken? Was verraten die Farben des Schnees? Was bedeuten seine feinen Schattierungen? Welche Geheimnisse verbergen sich hinter, oder besser: unter dem Sichtbaren, dem Vordergründigen? Wo liegen die versteckten Fallen, wo lässt sich unser Gletscher überrumpeln? Dort eine Brücke, die halten könnte, könnte! "Seil spannen!", lautet dann Harrys forsches Kommando, und "Konzentration! ... Dass mir niemand schläft!" Ein vorsichtiges Herantasten an eine filigran aussehenden Brücke, ha, ertappt! - sie hält.
Stück für Stück, Schritt für Schritt erliest sich Harry einen uns geheimen Weg durch das Spalten-Labyrinth, findet mit Sicherheit die einzig mögliche Route - "Seil spannen!" - ein Sprung - "Nicht schlafen!" - ein Teleskopschritt über ein schwarzes Loch - wie sehr Susanne solche Turnübungen liebt! Manchmal bleibt Harry nur eine Ahnung, dann sieht man auch ihm die Anspannung an - "Quer zur Spalte sichern! Und passt's mir jetzt ja auf!"
Selten habe ihn ein Gletscher so gefordert, gibt Harry anschließend zu, Abgründe bis zu 40 Metern erinnern an West-Alpen-Dimensionen. Die Selektivität des Großen Geiger habe in diesem Sommer locker an die des Mont Blanc heran gereicht!

Wir anderen, längst verstummt, konzentrieren uns auf's gespannte Seil und den klumpenden Schnee an den Steigeisen - "Sch... Schnee ...!", liegt's Annelies auf den Lippen, aber aussprechen wird sie's nie.

Am felsigen Westausläufer des Geiger haben wir es geschafft, glauben wir - lassen uns fallen, zu sehr fallen - ein Mädel rutscht in die steile Südflanke - und weil Mädels schreien, wenn sie fallen, stoppt es eine kollektive Pickelbremse. Männer schreien nicht, wenn sie fallen, was es schwieriger macht, schnell zu reagieren.

Weil der ansonsten leichte und zum Gipfel führende Firnhang unbewältigbar ist, müssen wir über Blockwerk weitersteigen, mitunter klettern, was unseren Bayern zur Weißglut treibt, schaffen seine Beine doch partout jenen Spagat nicht, den sie gefälligst zu schaffen haben. Sigis Flüche wecken uns aber endgültig aus der Anspannung und treiben uns beherzt dem Gipfel zu, den wir um 13 Uhr, also nach gut 7 Stunden erreichen.
Eine Stunde bleiben wir dort, aalen uns in der Sonne, tanken Energie für den Abstieg. Bei niemandem will so richtig Euphorie aufkommen, wissen wir doch, dass der einzige Weg nach Hause durch das grauweiße, zerrissene Labyrinth unter uns führt.

Harry hat Feuer gefangen. Nicht den gleichen Weg zurück, sondern eine Überschreitung! Also noch eines draufgesetzt! Ja über den Südgrat hinunter. Power, Leute, Power! Er steigt voraus, prüft den Weg, passt! - und Marsch. Tatsächlich verläuft der Abstiegsweg über den südöstlichen Ausläufer des Geiger durch leichtes, manchmal etwas "bröseliges" Schuttwerk.
Am Gletscher wieder "Seil spannen!", "Nicht schlafen!", "Schnee von den Steigeisen schlagen!" Das Spiel, an das wir uns mittlerweile gewöhnt haben, begeistert uns mittlerweile, weil uns irgendwer mit Feuer angesteckt hat. In gewohnt zielsicherer Manier liest sich Harry durch den Gletscher zurück. Er, der auch Blinden und Behinderten das Klettern lehrt, also ein Sensorium für die feinen Schwingungen des Eises, Felsens und Seilpartners haben muss, kennt mittlerweile die Schwächen des Gletschers - und seiner Kunden. Beinahe blind findet er durch die verschlungenen, von der Sonne aufgeweichten, engen Gletschrgassen. Am Ende leuchten seine, aber auch unsere Augen. Für manche war's der erste 3000er, für die meisten Neuland, für uns alle eine Prüfung, die uns neue Grenzen berühren ließ.


Essener & Rostocker-Hütte

Es war ein Wagnis, als die alpenferne Hafen und Schiffbaustadt Rostock vor rund hundert Jahren (1912) ausgerechnet im hintersten Virgental eine Hütte baute. Treibende Kraft dabei war der Bergführer Andrä Mariacher, der überzeugt war, dass eine Hütte an diesem Ort eine Erleichterung für die langen Touren auf Dreiherrn-Spitze, Simonyspoitzen und Geiger bedeuten würde. Am 8. August 1912 wurde Hütte mit ihren 27 Übernachtungsplätzen - 13 Betten und 14 Matratzenlager - feierlich eingeweiht.
1912 stellte sich die Gletscherwelt in der Umgebung der Hütte noch sehr viel prachtvoller dar, als dies leider heute der Fall ist. So erstreckte sich damals der von den Simonyspitzen und vom Reggentörl fließende Simonykees bis unmittelbar in die Nähe der Hütte.

Hüttenwirt wurde 1912 Andrä Mariacher, der sich um den Ausbau des Wegenetzes im Maurertal sehr verdient gemacht hat. 1914 wurde Mariacher zum Krieg einberufen. Beim Verlassen der Hütte entfernte er noch schnell die Brücken über die Gletscherbäche, sodass die Hütte als eine der wenigen im Tauerngebiet nicht bestohlen wurde. Nach dem Krieg trat an die Stelle der Mariachers die legendäre Hüttenwirtin Ida Steiner.

Dem Wagnis war kein Glück beschert. 50 Jahre nach Eröffnung der Hütte schloss die Rostocker Alpenvereinssektion ihre Pforten; der in den Westen emigrierte Nachfolgeverein war finanziell zu schwach, um die Hütte allein zu halten. Die Essener Sektion, deren im benachbarten Umbal-Tal gelegene "Neue Essener-Hütte" durch eine Staublawine zerstört worden war, sprang ein, beließ den Namen und die Rostocker Hütte als Lager- und Abstellraum. Heute wird die Essener & Rostocker Hütte von Friedl Steiner aus Prägraten bewirtschaftet.

Die Hütte verfügt über 50 Betten, 50 Matratzenlager, einen Schulungsraum für Alpinkurse und Gletscherpanoramablick. Geöffnet 20. Juni bis Ende September, 1. März bis Mitte Mai.


Schwierigkeiten:
Nur von erfahrenen Bergsteigern zu bewältigen; gute Eis-, Spaltenbergungs- und Sicherungstechnik vorausgesetzt
Beste Jahreszeit: Sommer, Herbst
Kinder: Ab 17
Ausrüstung: Pack-Checkliste >>>
Einkehrmöglichkeiten: Essener & Rostocker Hütte
Karten: ÖK 1:50.000, Blatt 151 u. 152;
AV-Karte 1:25.000, Blatt 36
Internet:

Alpinschule Laserer
Hohe Tauern

Hinterbichl