Die
Geschichte der Eiger-Nordwand
Von
Uli Auffermann
Am 24.
Juli 1938 drücken sich vier Männer im Schneesturm auf dem
3970 Meter hohen Gipfel des Eigers die Hand. Anderl Heckmair, Wiggerl
Vörg, Fritz Kasparek und Heinrich Harrer haben es geschafft. Sie
haben das "letzte Problem der Alpen", die Eiger-Nordwand,
als erste durchstiegen. Eine Sternstunde des Alpinismus - ein bergsteigerischer
Erfolg, der bis heute rund um die Welt gewürdigt wird! 65 Jahre
danach ist die Heckmair-Route in der Rückschau alles gewesen: Ein
Laufsteg der Eitelkeiten, ein Ort alpiner Kuriosa, dramatischer Rettungsaktionen
und tragischer Todesfälle, vor allem aber bergsportlicher Höchstleistungen!
DIE
WAND
Eiger-Nordwand.
Dieser Begriff ist fester Bestandteil einer durchschnittlichen Allgemeinbildung.
Sogar jeder Nicht-Bergsteiger kennt dieses Wort. Die meisten waren nie
da und wissen oftmals nicht, wie sie aussieht. Dennoch ist die Eiger-Nordwand
im Speicher der Gehirne verankert wie das Empire-State-Building, die
Niagarafälle, die Pyramiden oder ähnliche "Weltwunder".
In vielen Betrachtungen, Vergleichen, alpinen Schwierigkeitsbewertungen
bemühen sich Bergsteiger und Alpinpublizisten seit der Erstbesteigung
1938, der Eiger-Nordwand ihren Nimbus, ja ihren Mythos zu nehmen, die
schwierigste Kletterei im Leben eines Bergsteigers zu sein.
Im Himalaja werden Wände von ungleich gewaltigeren Ausmaßen
durchstiegen. Modernes Sportklettern in Fels und Eis kann mit Schwierigkeiten
aufwarten, die um etliche Grade höher liegen als die schwersten
Kletterpassagen in der Eigerwand.
Wie
ein böser Störenfried lastet die Wand
über dem freundlichen Tal von Grindelwald.
Niemand liebt sie, und wer sie kennt, fürchtet sie!
Wenn auch
der Status Quo der Eigerwand damit auf ein Maß zurückgeschraubt
ist, durchaus realistischer als die maßlosen Übertreibungen,
die das "N" als Anfangsbuchstaben für Nordwand gerne
mit dem "M" für Mordwand vertauschen - diese Eiger-Nordwand
ist und bleibt in ihrer gesamten bergsteigerischen Herausforderung ein
Markstein für Allroundalpinisten und eine Art Elite-Zertifikat
für all jene, die sie erfolgreich durchstiegen.
Viele, zu viele mussten aus dieser Wand geborgen werden oder ließen
ihr Leben. Oft auch, weil sie sich um jeden Preis mit der Aura des
Eiger-Nordwand-Bezwingers umgeben wollten, obwohl leider ihr bergsteigerisches
Potential häufig nicht ausreichte.
Lässt sich ein großer Teil der Tragik der Besteigungschronologie
dem Leichtsinn und der Unerfahrenheit vieler Nordwand-Aspiranten zuordnen,
über eines kann und sollte das alles nicht hinwegtäuschen:
Diese Wand mit ihren fast 2000 Metern Höhe ist in der Einzigartigkeit
ihrer Anforderungen einfach sehr schwer und überaus gefährlich!
Die Heckmair-Route darin ist enorm lang, die Felsqualität ist schlecht,
nicht selten mit einer Eisglasur überzogen. Es gibt ausgedehnte,
schwierige Eispassagen, immense Gefahr durch Steinschlag und Lawinen
und überraschende, heftige Wetterstürze! So kann diese Kletterei
jederzeit auch für die Besten zu einer Bergtour an der Grenze werden.
DIE
ERSTEIGUNG
Die Geschichte
der Eiger-Nordwand-Begehungen ist eine Geschichte alpiner Triumphe und
menschlicher Tragödien!
Der
erste Besteigungsversuch 1935 endet für die beiden Münchener
Max Sedlmayr und Karl Mehringer tödlich. Als dann
1936 die Österreicher Edi Rainer und Willy Angerer
sowie die Deutschen Anderl Hinterstoißer und besonders
Toni Kurz auf erschütterndste Weise beim nächsten Versuch
in der Eigerwand ihr Leben verlieren und es auch 1937 bei mehreren vergeblichen
Anläufen wieder ein Todesopfer gibt, gilt sie als unersteigbar
und erlangt als "Mordwand" Weltruhm.
Die Weltpresse ist 1938 auf ein Drama in der Eiger-Nordwand eingestellt.
Sonderberichterstatter bringen Live-Reportagen über das Radio oder
versorgen ihre Redakteure mit dem Neuesten per Telefon. Doch Heckmair
hat die Wand studiert und aus den Fehlern der anderen seine Schlüsse
gezogen. Er hat erkannt, dass es sich eher um eine Eis- denn um eine
Felskletterei handeln wird, und besorgt für sich und seinen Partner
Wiggerl Vörg die damals noch völlig neuartigen 12-Zacker-Steigeisen
mit zwei Frontalzacken.
Dies
war der Tag des Anderl Heckmair.
Um 15.30 Uhr am 24. Juli 1938 haben sie es geschafft,
die Eiger-Nordwand ist kein letztes Problem der Alpen mehr.
Als sie
am 22. Juli gegen 3 Uhr früh von ihrem Zeltplatz aus aufbrechen,
befinden sich die Österreicher Fritz Kasparek und Heinrich
Harrer bereits seit einem Tag in der Wand, biwakieren in den Felsen
rechts des Zweiten Eisfeldes.
Heckmair und Vörg sind auch dank ihrer Steigeisen so schnell, dass
sie schon um 11.30 Uhr auf die beiden anderen treffen, die sich wegen
des lästigen und anstrengenden Stufenschlagens noch immer im Zweiten
Eisfeld abmühen. Nach einigem Hin und Her entschließen sie
sich, sich zusammen zu tun, auch um sich nicht gegenseitig zu gefährden.
Heckmair übernimmt die Führung bei zunächst noch einigermaßen
guten äußeren Bedingungen. Am späten Nachmittag des
23. Juli schlägt das Wetter nach einem heftigen Gewitter um, sie
erwachen am nächsten Morgen in einer echten Winterlandschaft, umgeben
von Unmengen Neuschnees. Ist es am Biwakplatz auch relativ windstill,
so hören sie doch den Sturm am Gipfel brausen. "Dies war
der Tag des Anderl Heckmair", um Heinrich Harrer zu zitieren.
Anderl Heckmair macht aus "unmöglich" "möglich".
Er setzt alles ein. Seine außerordentliche Physis, sein spezielles
Training für diese Tour, seine psychische Stabilität, alles
kommt jetzt am Limit zum Tragen. Er muss volles Risiko gehen. Dennoch
läuft nichts panisch ab, keiner verfällt in Hektik, gesichert
wird nach wie vor sorgfältig. Um 15.30 Uhr am 24. Juli 1938 haben
sie es geschafft, die Eiger-Nordwand ist kein letztes Problem der Alpen
mehr. Sie hat ihre erste Durchsteigung, ihre klassische Route der Erstbegeher,
ihre Anderl Heckmair-Route.
DIE
AKTEURE
Dass diese
Route in den seither vergangenen 65 Jahren immer wieder zum Kriterium
bergsportlicher Entwicklungen und Schaufenster alpinistischer Grenzleistungen
geworden ist, verwundert nicht.
Nach der weltweit Aufsehen erregenden Erstdurchsteigung von 1938 bringt
das Grauen des Zweiten Weltkrieges eine Pause an der Nordwand und vereitelt
zunächst Wiederholungen der Route. Erst neun Jahre später
gelingt den bekannten französischen Alpinisten Lionel Terray
und Louis Lachenal (Erstbesteiger der Annapurna 1950) die Zweitbegehung.
Noch im selben Jahr verbuchen die Schweizer Bergführer Hans
und Karl Schlunegger die dritte Begehung der Kletterei auf ihr
Konto - und dies sogar als Führungstour.
Der Run auf die Heckmair-Route - "man muss sie halt gemacht haben"
- hat eingesetzt. In der Chronik finden sich Schlag auf Schlag die Namen
derer, die seitenweise alpine Literatur ausmachen: Hermann Buhl,
Gaston Rébuffat, Guido Magnone, Erich Vanis,
Kurt Diemberger, Leo Schlömmer, Felix Kuen,
Armando Aste, Paul Etter, Chris Bonington, Walter
Spitzenstätter, Dougal Haston, um nur einige zu nennen!
Als
Spiegel neuer Wertmaßstäbe, als Indikator für neue Ausrichtungen
in der Einstellung der Kletterer bleibt die Heckmair-Route im Focus
des bergsportlichen Interesses.
In besonderem
Maße bleibt die Heckmair-Führe immer dann im Gespräch,
wenn es gilt, in der Tradition klettersportlicher Grenzgänge der
Route die vollkommene Biografie zu verpassen: bei der ersten Winterbegehung
1961 durch Toni Hiebeler, Walter Almberger, Toni Kinshofer
und Anderl Mannhardt, beim ersten Alleingang durch den Schweizer
Michel Darbellay 1963, bei der ersten Durchsteigung mit Teilnahme
einer Frau, der Deutschen Daisy Voog, 1964.
Als Spiegel neuer Wertmaßstäbe im Alpinismus, als Indikator
für neue Ausrichtungen in der Einstellung der Kletterer bleibt
die Heckmair-Route im Focus des bergsportlichen Interesses. Reinhold
Messner und Peter Habeler beweisen 1974 ihre herausragende
Klasse, als sie die Wand in knapp zehn Stunden durchsteigen (ein bis
heute wohl nicht wiederholter Rekord). Thomas Bubendorfer und
Reinhard Patscheider durcheilen jeweils allein die Wand 1983
in unter fünf Stunden, Christophe Profits Enchaînemaints
von 1985 zeigt, dass es mit Helikopterunterstützung möglich
geworden ist, die Nordwand des Eigers, die Matterhorn-Nordwand und die
Grandes Jorasses an einem Tag zu durchsteigen, und Catherine Destivelle
schafft 1992 als erste Frau eine Alleinbegehung, dazu noch im Winter,
und erst unlängst, im März 2003, stellt der Südtiroler
Bergführer Christoph Hainz einen neuen Speedrekord im Alleingang
auf: 4:30 Stunden!
DIE
GROSSE BÜHNE
Seit den
Pionierzeiten der dreißiger Jahre bleibt die Wand stets unter
Beobachtung der Medien. Obwohl die Kletterei noch unter 4000 m Höhe
endet, teilt sich die Eigernordwand in ihrem Bekanntheitsgrad sicher
die ersten Plätze mit den Achttausender-Giganten des Himalaja.
Viele haben daran Anteil. Luis Trenker etwa, er stellte in ihr
mit Toni Sailer, Dietmar Schönherr und Hilti von
Allmen die Werte echter Bergfreundschaft in einem Spielfilm auf
die Probe (Sein bester Freund, 50er Jahre). Oder Clint Eastwood,
er musste in der Wand Agentenabenteuer, made in Hollywood, bestehen
(The Eiger Sanction, 1975).
Wie
eine in die Jahre gekommene Diva kann die "Wand der Wände"
trotzdem immer wieder noch fesseln.
Beinahe
Jahr um Jahr liefert die Nordwand des Eigers spektakuläre Meldungen,
wie von Besteigungen, die zum Kampf mit den Elementen werden, oder von
dramatischen Rettungsaktionen, bei denen auch die Retter im Grenzbereich
des Machbaren neue Maßstäbe setzen. Sogar Juristen hatten
schon Anlass zu einem Rechtsstreit im so genannten Eigerwand-Prozess,
nachdem ein behaupteter Durchsteigungserfolg 1961 in Zweifel gezogen
wurde. Oder auch von alpinen Kuriosa, als beispielsweise die beiden
Schweizer Adolf Derungs und Lukas Albrecht 1959 die Grundsätze
des Bergsteigens konterkarierten. Ohne zweckmäßige Ausrüstung,
gegen die Kälte hatten sie schwere Wintermäntel mit, ohne
Routenbeschreibung und ohne jede Erfahrung für eine solche Tour,
haben sie der berüchtigten Eigernordwand ein Schnippchen geschlagen:
Bei denkbar schlechtester Witterung, bei Kälte und Schnee durchsteigen
sie als blutige Anfänger, nur ausgestattet mit einer Riesenportion
Optimismus, in mehreren Tagen die gewaltige Mauer des Eigers!
Wie eine in die Jahre gekommene Diva kann die "Wand der Wände"
trotzdem immer wieder noch fesseln!
So 1999 bei der "Eiger-Live"-Durchsteigung, als einfühlsame
Regisseure und Kameramänner in ruhiger, sachkundiger Fernseharbeit
uns alle intensiv eintauchen ließen in die endlos lange Kletterei
der Heckmair- Route, oder erst unlängst mit den atemberaubenden
Bildern, die Thomas Ulrich geschaffen hat, als er die Spitzenkletterer
Michal Pitelka und Stephan Siegrist in der Ausrüstung
der Erstbesteiger filmisch und fotografisch begleitete.
Da
stellt sich die Frage, ob wohl heute noch Luis Trenkers Statement aus
den 50er Jahren gilt:
"Wie
ein böser Störenfried lastet die Wand über dem freundlichen
Tal von Grindelwald. Niemand liebt sie, und wer sie kennt, fürchtet
sie!"