Am 1.2.2005
ist Anderl Heckmair, einer der Eigernordwand-Erstbesteiger, im Alter
von 98 Jahren friedlich in einem Oberstdorfer Krankenhaus gestorben.
Als einer der letzten Kletter-Pioniere und ersten Weltenbummler hat
er vorgezeigt, was es heißt, das Leben in vollen Zügen zu
genießen, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.
"Anderl
ist der Mann der Eigerwand, war einer der wildesten Kletterer und komplettesten
Bergsteiger der dreißiger Jahre. Doch er ist soviel mehr! Ein
offener, großherziger und bescheidener Mensch voller Humor und
ungeheurer Vitalität. Ein Genießer, ein Lebenskünstler,
dessen innere Stimme ihn allzeit zum Freidenker machte. Ein wacher Zeitzeuge
wichtiger Epochen in alpinistischer wie gesellschaftlicher Hinsicht.
Ein Bergführer durch und durch, der ... Gefallen daran hat, auf
welche Weise auch immer Menschen Zugang zur ganzen Dichte und Fülle
des Erlebnisses Natur zu verschaffen", beschreibt Uli Auffermann,
Heckmairs Biograf und Freund, den Pionier.
(zitiert aus Uli Auffermann: Was
zählt ist das Erlebnis)
Anderl
war ein Genießer, ein Lebenskünstler, dessen innere Stimme
ihn allzeit zum Freidenker machte.
Am 12.
Oktober 1906 in München geboren, verbrachte Heckmair seine schwere
Kindheit und Jugend vorwiegend im Waisenhaus, die Weltwirtschaftskrise
Ende der zwanziger Jahre trug das ihre zu seiner Mittel- und Arbeitslosigkeit
bei. Als er seinen Job als Gärtner verlor, wurde ihm die Bergwelt
zur Fluchtburg, die Bergsteigerei zu Lebenselexier und Motor zugleich.
Heckmair
avancierte zu einem der besten Kletterer der dreißiger Jahre,
unternahm schwerste Touren wie die Nordwand der Grossen Zinne oder die
Nordwestwand der Civetta und schaffte die achte Begehung des Walkerpfeilers
an den Grandes Jorasses. Mit
Gleichgesinnten radelte er bis Afrika, durchkletterte die Schweiz und
die Dolomiten. Eine schwierige Route nach der anderen füllte sein
Tourenbuch bis 1933, als er das Ziel, die Autorisierung zum Bergführer,
erreichte. Aufgrund seines unkonventionellen Kletterstils, seiner großen
Erfahrung und seines enormen körperlichen und psychischen Durchhaltevermögens
gehörte er zu jenem kleinen Kreis der absoluten Top-Alpinisten
Europas, denen es zuzutrauen war, das "letzte ungelöste Problem
der Alpen", die berühmt-berüchtigte Eiger-Nordwand, zu
lösen. 1938 schafft Heckmair zusammen mit Wiggerl Vörg, Heinrich
Harrer und Fritz Kasparek den Durchstieg und rückt seinen Beruf
als anerkannter Bergführer in den Mittelpunkt seines Lebens. Er
führt Kunden auf viele Gipfel der Alpen, organisiert Expeditionen
u. a. nach Afrika, Südamerika, Kanada und den Himalaya, bildet
Bergführeranwärter im Deutschen Alpenverein aus. Auf seine
Initiative hin wurde 1968 der Berufsverband der Deutschen Berg- und
Skiführer gegründet.
Heckmair
steht wie kein zweiter für das, was heute mit dem Begriff des Bergvagabunden
gemeint ist. Seine Lebensauffassung begeistert auch Nichtbergsteiger
seit jeher: mit allen Sinnen zu genießen, sich immer wieder von
Zwängen und Normen freizumachen, den Lebenssinn in abenteuerlichen
Herausforderungen, in Begegnungen mit verschiedensten Menschen, fremden
Kulturen und der Natur in ihrer ganzen Intensität zu finden. Heckmair
ist so gesehen ein Trekker moderner Prägung, der das vorgelebt
hat, wovon unsereins heute träumt: Dorthin zu gehen, wohin das
Gefühl uns treibt, das zu tun, was wir für den ultimativen
Kick halten, zu leben im Hier und Jetzt. Heckmair ist aus dem "Stegreif"
heraus geklettert, der Lust am Abenteuer, der Bergliebe wegen - ein
Urtypus des heutigen Tramps, des Weltenbummlers, des unerschrockenen,
ungebundenen Lebensentdeckers.
"Bei
meinen bergsteigerischen Unternehmungen hatte ich allzeit den Grundsatz:
es kommt nicht auf die Leistung, sondern auf das Erlebnis an. ... Wir
hatten Freude an unserem Tun und waren davon erfüllt",
skizziert Heckmair seinen Lebensentwurf.
Anderl
Heckmair mit seiner Frau Trudl
Die
Erstbesteigung der Eiger-Nordwand
Am 22. Juli
1938 steigen Anderl Heckmair und Ludwig "Wiggerl" Vörg
in die Wand der Wände, die "Mordwand", wie sie damals genannt
wurde, ein. Bald treffen sie auf eine andere Zweier-Seilschaft: Fritz
Kasparek und Heinrich Harrer. Die vier schließen sich nach einem
Schneesturm in der "Spinne" zusammen, Heckmair übernimmt
die Führung. Es war wohl vor allem seine exzellente Technik, seine
Ausrüstung (er ist als einziger mit den damals neuartigen 12-Zacker-Steigeisen)
und Führungsqualität, der es zu verdanken ist, dass das Quartett
den Gipfel des Eiger erreicht.
(...)
Das Unwetter ist mittlerweile da, es blitzt , donnert, fängt an zu
graupeln. Sie sind pausenlosem Steinschlag ausgesetzt und hoffen, dass
keines dieser Geschosse sie treffen möge, es wäre wahrscheinlich
das Ende. Und dann plötzlich ein Brausen und Zischen, eine Lawine
aus Graupelkörnern, Schnee, Schmutz und Gestein rast auf die Kletterer
zu. (...) Völlig ungesichert, abgesehen vom eingerammten Pickel,
überstehen Anderl Heckmair und Wiggerl Vörg den kritischen Augenblick.
Mit Bangen schauen sie dem Ende der Lawine hinterher und bezweifeln, dass
Kasparek und Harrer noch leben. Doch was für ein Glück, die
beiden hat es auch nicht aus der Wand gefegt. (...) Als der Morgen des
24. Juli anbricht, befinden sich die vier Bergsteiger in einer echten
Winterlandschaft. Unmengen Neuschnee hat es in der Nacht gegeben. Kalt
ist es, und die Felsen rund um ihr abschüssiges Band sind mit einem
dicken Eispanzer überzogen. Ist es am Biwakplatz auch relativ windstill,
so hören sie doch den Sturm am Gipfel brausen und müssen überdies
davon ausgehen, dass sie der Wind mit voller Wucht trifft, wenn sie ihr
geschütztes Fleckchen verlassen. (...) Anderl Heckmair macht aus
"unmöglich" "möglich". Er setzt alles ein.
Seine außerordentliche Physis, sein spezielles Training für
diese Tour, seine psychische Stabilität, alles kommt jetzt am Limit
zum Tragen. Er muss volles Risiko gehen. (...) Es ist fünfzehn Uhr
dreißig am 24. Juli 1938. Die Eiger-Nordwand ist kein letztes Problem
der Alpen mehr. Sie hat ihre erste Durchsteigung, ihre klassische Route
der Erstbegeher, ihre "Anderl Heckmair Route", wie sie heute
genannt wird. (zitiert aus Uli Auffermann:
Was zählt
ist das Erlebnis)
Obwohl das
damalige nationalsozialistische Regime den Erfolg am Eiger propagandistisch
ausschlachtete, ließ sich Heckmair von der NSDAP nicht vereinnahmen.
Im Gegenteil: Man schickte den "politisch Unverlässigen"
als Infanterist an die Ostfront. Danach schlug er sich als "transalpiner"
Schmuggler durch, lernte den Multimillionär Otto-Ernst Flick kennen,
der ihn als persönlichen Bergführer aufs Matterhorn, den 4600
Meter hohen Ruwenzori in Afrika, durch die Anden und auf den Popocatépetl
in Mexiko anheuerte.
"Ich
hab' eben für die Berg' und von den Bergen gelebt."
Buchtipps:
Uli Auffermann: Was
zählt ist das Erlebnis - Anderl Heckmair.Alpinist und
Lebenskünstler.
2002, Semann Verlag, ISBN 3-00-008873-3; Dieses Buch beleuchtet umfassend
das Leben Anderl Heckmairs und dessen politisches und soziales Umfeld.
Uli Auffermann: Anderl
Heckmair - Querblicke/Augengang. EinEwiger Kalender
Semann Verlag, ISBN 3-453-86126-4; Eine zeitlose Hommage an den einmaligen
Alpinisten. Ideal für alle, die in den Bergen Auseinander-setzung
mit sich und der Natur finden.