Rummelplatz
der Eitelkeiten
29.
Mai 1953, vormittags: Nachdem sie tags zuvor auf 8500 m Höhe
Lager IX aufgeschlagen haben, sieht Hillary um 4 Uhr morgens aus dem
Zelt und 4500 Meter unter sich das Kloster Tengpoche. Hillary muss seine
steif gefrorenen Stiefel über der Flamme des Kochers auftauen,
weil er sie in der Nacht ausgezogen hatte. Um 6.30 kriechen die beiden
aus dem Zelt, packen ihr Gepäck und das Gestell mit den beiden
Stahlflaschen und stapfen los zum letzten und höchstgelegenen Ziel
der Welt. Sie kommen nur langsam voran. Bruchharsch, das Schlimmste,
was einem Bergsteiger passieren kann, bremst sie ein wenig. Sich in
der Führung abweschselnd, gelangen sie über einen 120 Meter
langen Schneehang um 9 Uhr auf den Südgipfel des Everst,
8751 m, wohin auch Evens und Bourdillon gekommen waren. Noch trennen
sie 100 Meter Höhe und rund 350 Meter Luftlinie vom Hauptgipfel.
Ab jetzt betreten sie absolutes Neuland. Noch nie waren Menschen in
der Flughöhe eines modernen Jets unterwegs. "Mit steigender
Erregung bahnte ich mir den Weg vom Südgipfel zu dem kleinen Sattel
am Fuß des Gipfelgrates", berichtet Hillary später,
"Ich hackte eine Reihe von Stufen, vielleicht zwölf Meter
lang, dann rammte ich meinen Eispickel als Sicherung in den Schnee und
ließ Tenzing nachkommen." Der Schnee ist fest, hält
ihr Gewicht. Als Tenzing an Kraft verliert, entdeckt Hillary, dass dessen
Sauerstoffflasche vereist war. Er entfernt das Eis, Tenzing erholt sich
wieder.
Nach einer Stunde stehen sie vor einem scheinbar unüberwindbaren
Problem: einer etwa 12 Meter hohen Felswand.
An dieser
Stelle wird sich 43 Jahre später jenes Drama abspielen, das zur
wohl tragischsten Zäsur der Everest-Geschichte werden würde:
Im Mai 1996 erfriert dort der neuseeländische Bergführer
Rob Hall, nachdem er per Satellitentelefon Abschied von seiner schwangeren
Frau genommen hat.
Der kollektive Wahnsinn kulminiert in einer Katastrophe ...
Die
"Arena der Einsamkeit" (Messner) wandelt sich in den 90ern
zum Vergnügungspark finanzkräfiger Abenteuertouristen.
Rieseunternehmen bieten die Gipfeltour als Pauschalarrangement samt
Gipfelgarantie an. Der Mount Everest wird zur Bühne gesellschaftlicher
Selbstdarstellung. "Im Triumphzug der Einfalt steigt die Jux-Gesellschaft
in Hunderschaften auf das Dach der Welt ... Ein letzter Platz der Träume
ist somit zum Fluchtpunkt der Eitelkeit verkommen" (Messner). Der
Gipfel des Everest wird zum Statussymbol, zur Jagdtrophäe gelangweilter
Millionäre.
Die Komödie der Eitelkeiten gerät jäh zum Drama, als
im Mai 1996 dreißig Expeditionen zum Wettlauf um den Gipfel
ansetzen. Society-Damen, sich bis auf's Blut konkurrenzierende Firmenleiter,
unfähige Millionäre, die sich sogar die Steigeisen von Sherpas
anlegen lassen müssen, und überforderte Bergführer tummeln
sich am schmalen Grat zwischen Traum und tödlicher Wirklichkeit.
Auf Grund des Gedränges beim Hillary Step erreichen viele den Gipfel
zu spät und geraten in einen Orkan. 5 Menschen kommen allein am
Südostgrat ums Leben.
Zur selben Zeit stoßen zwei Japaner am Nordostgrat auf drei halb
erfrorene Inder. Sie klettern über sie hinweg, ohne sich um die
Sterbenden zu kümmern - "Oberhalb von 8000 Metern ist kein
Platz, wo Menschen sich Moral leisten können", meinen sie
trocken. Bezeichnend für die "selbstmörderische Hybris"
(Zitat Messner) einer sich elitär und heroisch gebärdenden
Everest-Society.
175 Menschen haben bisher beim Versuch, den Everest zu besteigen, ihr
Leben verloren.
Erklärte Gegner dieser Entwicklung sind bekanntermaßen Peter
Habler und Reinhold Messner: Ein in Eigenregie bestiegener Berg sei
ungleich wertvoller als ein gekaufter. Der Mensch muss auch beim Bergsteigen
wieder im Mittelpunkt stehen, fordern sie einhellig beim Gipfeltreffen
2003.
Thuji
chey, Chomolungma
29.
Mai 1953, mittags: Hillary sucht eine Möglichkeit die
Stufe zu bewältigen und entdeckt einen Spalt, in dem er sich die
Wand hochhebeln kann. "Ich hatte es geschafft! Zum ersten Mal
während der ganzen Expedition hatte ich das sichere Gefühl,
den Gipfel erreichen zu können", berichtet Hillary von
dem Moment, als er aus dem nach ihm benannten "Step"
steigt. Nachdem er Tenzing nachholt, stapfen sie weiter über Schneekuppen
bergauf, bergab, wieder hinauf, Hillary schlägt Stufe um Stufe
in den harten Schnee, der Grat biegt sich nach rechts, scheint nicht
enden zu wollen. Endlich sehen sie vor sich eine Wölbung, rücken
näher zusammen - "Then I realised that the ridge ahead,
instead of still monotonously rising, now dropped sharply away, and
far below I could see the North Col and the Rongbuk Glacier. I looked
upwards to see a narow snow ridge running up to a snowy summit. A few
more whacks of the ice-axe in the firm snow, and we stood on the top."
Da standen sie also am 29. Mai 1953 um 11.30 Uhr am höchsten
Punkt der Welt, fallen sich um den Hals, Hillary fotografiert Tenzing,
bittet diesen, auch ihn abzulichten, doch der winkt ab - er kann mit
Kameras nicht umgehen. Vergeblich suchen sie nach Spuren von Mallory,
Tenzing vergräbt ein Stück Schokolade als Gabe für die
Götter. "Thuji chey, Chomolungma - Danke, Muttergöttin
der Erde", murmelt er dabei.
In keinem
Besteigungsbericht ist von Glücksgefühlen am Gipfel
die Rede. "Am Gipfel ist kein Platz für Euphorie, dort ist
nur die Angst, nicht mehr hinunterzukommen", spricht Messner stellvertretend
für die 1200 Gipfelgänger des Everest. "Da ist keine
Erlösung, nur dieses Verlorensein am oberen Ende der Welt".
Gleichlautend Peter Habeler: "Ich war erschöpft und hohl ...
Kein Gefühl des Triumphes oder Sieges ... Ich wusste, ich stand
jetzt auf dem höchsten Punkt der Erde. Aber es war mir gleichgültig.
Jetzt wollte ich nur noch zurück, zurück in jene Welt, aus
der ich gekommen war". "Wir steigen nicht auf Berge, um Gipfel
zu erreichen, sondern heimzukehren in eine Welt, die uns als neue Chance,
als ein nochmals geschenktes Leben erscheint - als Wiedergeburt",
so Messner im April 2003.
Hillarys
Vermächtnis
Die Rückkehr ins Lager IV. Charles
Evens (ganz lins) geht an der Seite Hillarys, der noch an Tenzing Norgay
angeseilt ist. Rechts sind Tom Bourdillon und George Band zu sehen.
Foto: Alfred Gregory, 30. Mai 1953
"Lhagyelo
- die Götter waren gnädig!", ruft Norgay, als sie ins
Lager zurückkehren - und das fast 30 Jahre nach Mallorys wütender
Äußerung: "Erwartet keine Gnade vom Everest!".
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Meldung von der Erstbesteigung
des Höchsten um die ganze Welt.
"Nach
30 Jahren Anstrengung, über eine ganze Generation hinweg, ist der
Gipfel der Erde erreicht und eines der größten aller Abenteuer
vollbracht worden", meldet die Times, nachdem man ihr
verschlüsselt die Nachricht von der Erstbesteigung zukommen ließ:
Allein,
nicht gnädig waren wir Menschen mit dem Everest!
Die
Materialschlachten der letzten 50 Jahre verwandelten den Berg in eine
Müllkippe ungeheuren Ausmaßes. Bis zu 700 Tonnen Unrat,
vor allem Sauerstoff-Flaschen und Zelte werden an den Flanken des Berges
vermutet.
Hillary
2003: "Die Umwelt und das Soziale in den Bergen sind mir das zentrale
Anliegen". Was die Umwelt angeht, meint er den respektvollen Umgang
mit den Bergen, ja der Natur an sich, wie er von den Sherpas in vorbildhafter
Weise gelebt wird.
Seit 1979 genießt die Südseite der Mount-Everest den
Schutz der internationalen Staatengemeinschaft, während die Nordseite
des Chomolungma, wie die Tibeter den höchsten Himalaya-Gipfel bezeichnen,
noch nicht Aufnahme in das UNESCO-"Welterbe der Völkergemeinschaft"
fand.
Die
Zukunft des Bergsteigens wird nicht mehr im Rennen um Rekorde bestehen,
nicht in Schnelligkeit, Schwierigkeit oder Steilheit - selbst die Kletterer
werden bald ihre machbaren Limits erreicht haben. Es geht um die Rückkehr
des Menschen per se auf die Berge, um die soziale Chance einer gemeinsamen
Wanderung, wie Hillary fordert. Und es geht um den respekt- und demutsvollen,
um den natur- und kulturbewussten Umgang mit den Bergen der Welt. Gerade
am Beispiel Everest wird sichtbar, wie sehr Nepal und Tibet, jene zwischen
politischen und kulturellen Interessen zerriebenen Länder, unsere
engagierte Aufmerksamkeit benötigen.
Der Mensch und dessen kulturellen und religiösen Errungenschaften
müssen wieder im Mittelpunkt des Bergsteigens stehen. Warum zum
Beispiel nicht die Zufriedenheit und zwischenmenschlichen Früchte
eines Bergerlebnisses heimbringen und in eine von Kriegsgefühlen
verseuchten Welt einpflanzen? Warum nicht wieder bergsteigen des Bergsteigens
willen?
Der
Everest hat uns vieles gelehrt, er hat die Menschheit über neue Grenzen
hinauswachsen lassen, er hat sie aber auch warnend in die Schranken gewiesen
- dafür: Thuji chey, Chomolungma! |