Der
Geburtstag des Alpinismus
Francesco Petrarca und die Besteigung des Mont Ventoux
Am
26. April 1336 erreichte Francesco Petrarca aus Neugier, freiwillig
und "lediglich aus Verlangen" zusammen mit seinem Bruder und
zwei weiteren Begleitern den Gipfel des Mont Ventoux, des "windigen
Berges". Weil er in dieser Wanderung aber auch Naturerlebnis, Zufriedenheit
und "Erregungen des Herzens" empfand,
wird er als "Vater der Bergsteiger" bezeichnet und der 26.
April 1336 als "Geburtsstunde des Alpinismus".
Sein Bericht von seiner Tour auf den Mont Ventoux ist zugleich die erste
überlieferte Darstellung der freiwilligen Besteigung eines Berggipfels.
"Hebt
Eure Augen auf zu den Bergen, von denen Euch Hilfe kommt!"
Dieser
Satz des Heiligen Augustinus wurde zum Leitmotiv Francesco
Petrarcas. Der große italienische Lyriker und Romantiker Petrarca
griff in seinem Lebenswerk auf lateinische Schriften zurück und
holte vor allem die Werke Ciceros und Augustinus zurück in den
Focus gesellschaftlicher Betrachtungen. Sein allzeitiges Streben war
es, die inneren Befindlichkeiten der Menschen zu erkennen und daraus
menschenwürdige Daseinsgestaltung zu bewirken. Petrarca
war damit gewiss einer der ersten repräsentativen Humanisten, die
am Vorabend der Renaissance eine allgemeine menschliche Bildung vorantrieben
und jenseits kirchlicher Autorität die Wurzeln dafür in der
antiken Literatur, Kunst und Kultur sahen.
Am 26. April
1336 besteigt Petrarca den Mont Ventoux, den Berg des Windes,
ist tief bewegt, berichtet darüber und
schreibt seinem Freund FrancescoDionigi einen bemerkenswerten
Brief (siehe unten). Die Geburtsstunde des Alpinismus? Womöglich!
Petrarca steigt aus eigenem, freiwilligem Antrieb auf den Berg, allein
aus Neugierde und dem Wunsch, eine andere, eine veränderte Perspektive
einnehmen zu können. Nicht nur der Blick vom Gipfel in alle Richtungen
reizt ihn, der Berggang verheißt auch innere Erkenntnisse und Bewusstseinserweiterung.
Und in seiner Reflexion, seiner Auseinandersetzung darüber, liegt
vielleicht die besondere Bedeutung für das Bergsteigen. Nämlich
dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist, voller Forscherdrang und
Lust am Erleben. Leistung und physische Verausgabung, messbare Erfolge,
Neuland und das Gefühl, als erster etwas vollbracht zu haben, all
das ist Alpinismus. Aber mehr noch. Bergsteigen ermöglicht auch,
eine Last im Tal zurückzulassen und in der Verschmelzung mit der
Natur, mit jedem Schritt bergwärts ein Stück sich selbst näher
zu kommen.
Die
Besteigung des Mont Ventoux
Brief
an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro (1336)
Den
höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige
genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die
namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen.
Jener
Berg, weit und breit sichtbar, stund mir fast allzeit vor Augen, allmählich
ward mein Verlangen ungestüm, und ich schritt zur Ausführung,
insbesondere nachdem ich tags vorher bei Lesung der römischen Geschichte
im Livius auf jene Stelle gestoßen war, wo Philipp, der König
von Makedonien, den Berg Hämus in Thessalien besteigt, von dessen
Gipfel zwei Meere, das Adriatische und der Pontus Euxinus, sichtbar
sein sollen: Ob dies nun richtig oder unrichtig ist, hab' ich nicht
in Erfahrung gebracht.
Da ich mir aber die Wahl eines Reisegefährten überlegte, schien
kaum irgendeiner meiner Freunde allseitig passend dafür.
Kurz und gut, endlich warb ich häusliche Hilfstruppen und eröffnete
meinem jüngern Bruder die Sache. Dem konnte nichts fröhlicher
kommen; er wünschte sich Glück, zugleich Bruders und Freundes
Stelle bei mir einzunehmen.
Am bestimmten Tag zogen wir von Hause ab und kamen gegen Abend nach
Maloncenes (Malausane). Dieser Ort liegt an den Abhängen des Berges
gegen Norden; dort verweilten wir einen Tag, und heute endlich bestiegen
wir mit etlichen dienenden Leuten den Berg, nicht ohne große Schwierigkeit,
denn er ist eine steile und kaum zugängliche Masse felsigen Terrains.
Der Tag war lang, die Luft mild, die Gemüter waren entschlossen,
die Körper stark und geübt im Marschieren; nur die Natur des
Ortes schuf uns Hindernisse.
In den Schluchten des Gebirgs trafen wir einen alten Hirten, der versuchte
mit vielen Worten, uns von der Besteigung abzubringen, und sagte, er
sei vor schier fünfzig Jahren in demselben Drang jugendlichen Feuers
auf die höchste Höhe emporgestiegen, habe aber nichts mit
zurückgebracht als Reue und Mühsal, Leib und Gewand zerrissen
von Steinen und Gedörn, und es sei niemals, weder vorher noch nachher,
gehört worden, daß einer ähnliches gewagt. Während
er aber also plauderte, wuchs bei uns - wie ja der Jugend Sinn stets
ungläubig ist für Warnungen - aus der Schwierigkeit das Verlangen.
Beim Hirten ließen wir zurück, was uns an Gewändern
und Gerät lästig war; gürteten und schürzten uns
nun lediglich für die Bergbesteigung und stiegen wohlgemut und
hitzig empor. Aber - wie es zu gehen pflegt - auf mächtige Anstrengung
folgt plötzliche Ermüdung. Wir machten also nicht weit von
da auf einem Felsen halt; von dort
rückten wir wiederum vorwärts, aber langsamer, und ich insbesondere
fing schon an, den Gebirgspfad mit bescheidenerem Schritt zu beschreiten.
Mein Bruder strebte auf einem abschüssigen Pfad mitten über
die Joche des Berges zur Höhe empor; ich, als weicherer Steiger,
wandte mich mehr den Schluchten zu. Da er mir nun zurief und den Weg
richtiger bezeichnete, erwiderte ich ihm, im hoffe, von der andern Seite
leichter emporzukommen, und scheue mich nicht vor dem Umweg, wenn er
mich ebener führe. Dieser Vorwand sollte die Entschuldigung meiner
Trägheit sein; aber während die andern schon hoch auf der
Höhe stunden, irrte ich noch durch die Täler, ohne daß
irgendwo ein sanfterer Aufweg sich auftat; nur mein Weg ward verlängert
und die unnötige Arbeit erschwert. Indessen, da ich mißmutig
mich meines Irrtums ärgerte, beschloß ich, geradewegs die
Höhe zu erstreben, erreichte auch wirklich müd und mit zitternden
Knien meinen Bruder, der sich mit langem Ausruhen erquickt hatte.
Kurz, nicht ohne Lachen meines Bruders stieß mir solches während
weniger Stunden drei- oder mehrmal zu. Solcherweise oft getäuscht,
machte ich in einem Tale halt. Den obersten der Gipfel heißen
die Leute im Gebirg "das Söhnlein", warum, weiß
ich nicht, vielleicht des Gegensatzes halber, denn er schaut in Wahrheit
eher wie der Vater aller benachbarten Berge aus. Auf seinem Scheitel
streckt sich eine kleine Ebene, dort hielten wir ermüdet Rast.
Zuerst von ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen,
stand ich wie ein Staunender - ich schaue zurück: da lagerten die
Wolken zu meinen Füßen. Schon erschien mir minder fabelhaft
der Athos und Olympus, da ich das, was ich von jenen gehört und
gelesen hatte, an einem minder berühmten Berge erschaue.
Hernach wende ich den Blick nach der italienischen Seite, wohin sich
ja am meisten die Seele neigt: starr und schneebedeckt und ganz in meiner
Nähe erschienen mir die Alpen, durch welche einst jener wildeste
Feind des römischen Namens sich einen Durchgang bahnte und, wenn
der Sage zu glauben, mit Essig die Felsen sprengte - und doch sind sie
ein Beträchtliches von hier entfernt. Ich seufzte, ich gestehe
es, nach Italiens Himmel, der mehr meiner Seele als meinen Augen erschien,
und eine unsägliche Sehnsucht, Freunde und Vaterland wiederzusehen,
befiel mich - eine Sehnsucht, die ich eigentlich eine unmännliche
Weichheit schelten sollte, aber auf großer Männer Zeugnis
zur Entschuldigung stützen kann.
... Also beweinte ich meine Unvollkommenheit, bemitleidete die allgemeine
Wandelbarkeit menschlicher Handlungen und hatte schier vergessen, warum
ich heraufgekommen, bis ich einsah, daß noch andere Orte passender
seien, sich mit Sorgen zu plagen, und bis ich das betrachtete, dessen
Anblick zulieb ich heraufgestiegen. Denn schon war es Zeit, zurückzukehren,
die Sonne neigte sich, der Schatten des Berges wuchs mächtig und
gemahnte mich gleichsam, aufzuwachen. Da wandte ich mich rückwärts
und schaute nach Westen.
Jener Grenzwall zwischen Frankreich und Spanien, die Gipfel der Pyrenäen,
werden von dort aus nicht gesehen - nicht als ob ein fremder Gegenstand
dazwischenstünde, sondern nur wegen der Unzulänglichkeit des
menschlichen Auges.
Zur Rechten aber waren die Berge der lyonischen Provinz, zur Linken
der Meerbusen und die etliche Tagereisen entfernten Gewässer von
Aigues-Mortes aufs deutlichste sichtbar; die Rhone selbst strömte
vor unsern Augen.
Wie ich nun dies im einzelnen bewunderte und bald mich nach irdischen
Dingen erkundigte, bald nach Vorbild des Leibes auch den Geist in höhere
Sphären versetzen wollte, kam mir zu Sinn, das Buch der Bekenntnisse
des Augustinus aufzuschlagen, um zu lesen, was mir entgegentreten würde.
Mein Bruder, erwartungsvoll, etwas von Augustinus zu vernehmen, stund
mit gespannter Aufmerksamkeit - ich rufe Gott an und ihn selber, der
bei mir war -, wie ich die Augen auf das Blatt senkte, stund geschrieben:
Da gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu bewundern und die
Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis
und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber. Ich gestehe,
daß ich sehr betroffen war, meinen etwas zu hören begierigen
Bruder bittend, mir nicht beschwerlich zu fallen, schloß ich das
Buch, ich zürnte mir selber, daß ich auch jetzt noch irdische
Dinge bewundert hatte, die ich längst schon selbst von den Philosophen
der Heiden lernen gekonnt, daß nichts wunderbar als der Geist
und daß, wenn dieser groß, nichts anderes mehr groß
erscheint. Dann aber, sattsam zufrieden, den Berg gesehen zu haben,
wandte ich den innern Blick in mich selber zurück.
Wie oft hab' ich an jenem Tage talabwärts steigend und rückwärts
gewendet den Gipfel des Berges betrachtet, aber seine Höhe schien
mir kaum mehr die Höhe einer Stube, verglichen mit der Höhe
menschlicher Kontemplation, wenn dieselbe nicht in den Schmutz irdischer
Niedrigkeit getaucht ist.
Das auch fiel mir bei jedem Schritte ein: Wenn es uns nicht verdrießt,
soviel Schweiß und Mühsal zu ertragen, um den Körper
dem Himmel ein weniges näher zu bringen: welches Kreuz, welcher
Stachel darf eine Seele schrecken, die sich Gott nähern will ...!
...
Unter solchen Erregungen des Herzens kam ich ohne ein Gefühl des
steinigen Fußpfades wieder bei jener gastlichen Hütte des
Hirten an; vor Tagesanbruch waren wir von dort aufgebrochen, in tiefer
Nacht kehrten wir zurück, der Mond spendete uns seinen dankenswerten
Schein auf den Marsch. Dieweil nun unsre Diener mit Herbeischaffung
der Abendmahlzeit beschäftigt sind, habe ich mich in einen abgelegenen
Teil des kleinen Hauses begeben, dieses eiligst und aus frischem Gedächtnis
zu schreiben, damit nicht, wenn ich's verschiebe, durch Änderung
des Ortes auch die Gedanken ein ander Gewand erhalten und der Eindruck
sich abschwäche.
Francesco
Petrarca
Quelle:
Karl Heinrich Waggerl (Hrsg.): Der Berg - Landschaft als Erlebnis.
Kindler Verlag, München 1957
Francesco
Petrarca *
20.7.1304 in Arezzo, + 19.7.1374 in Arqua, Padua; italienischer Humanist
und Dichter, kam mit sechs Jahren nach Avignon; studierte in Montpellier
und Bologna Jura, später antike Literatur; zwischen 1333 und 1349
wieder in Avignon; gehörte von 1353 bis 1361 zum Mailänder
Hof der Visconti; lebte ab 1362 in Venedig, zuletzt im abgelegenen Arqua;
als humanistischer Schriftsteller berühmt; auf dem Kapitol zum
Dichterkönig gekrönt; hatte großen Einfluss auf die
Entwicklung des Humanismus.
Mont Ventoux Gipfel in den Drôme-Alpen (Provence), 45 Kilometer nordöstlich
von Avignon; 1912 m hoch; eine völlig isoliert stehende Bergmasse
mit einem ausgedehnten, weitläufigen Hochplateau, die sich unmittelbar
über dem Rhônetal aufbaut; im Tal die Städte Avignon und
Orange, vom Gipfel kann man bei guter Sicht das Meer und im Osten die
Gipfel der Alpen sehen.