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Cho Oyu
Die Göttin des Türkis in reinstem Alpinstil
Himalaya, 8.201 m, Mai 2004

Aus dem Expeditionstagebuch von Otto Harrer; Bilder: Bernhard Teischl

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Der Aufstieg

6. Mai 2004: Erster Aufstieg zum Lager 1 in 6.400 m

Auszug aus Otto Harrers Tagebuch: Um 8.30 Uhr brechen wir auf. Laut Information der Bergsteiger müssen wir uns auf einen sechs bis acht Stunden langen Marsch gefasst machen. Das ständige Auf und Ab auf der endlos langen Moräne zermürbt Geist und Körper. Wir gehen, ohne an Höhe zu gewinnen. Wir wissen, dass uns am Ende des Moränengletschers der Killerhang (siehe Bild unten) bevorsteht. Am sog. KillerhangWeshalb der „Killerhang" Killerhang heißt, weiß jeder, der ihn schon mal gegangen ist.
Die Steigung wird brutal. Der Rucksack, obwohl nicht allzu schwer, drückt auf den Buckel. Das Gehen im Schotter ist eine Qual. Drei Schritte vor, einer zurück. Der Killerhang macht seinem Namen alle Ehre.
Die Luft wird merklich dünner. Ich merke, dass ich noch nicht vollständig an die Höhe angepasst bin.
Nach drei Stunden und fünfzig Minuten – anstatt der kolportierten sechs bis acht Stunden – erreichen Bernhard, Hubert und ich das Camp. Wir rasten kurz, ehe wir uns nach einem geeigneten Zeltplatz umsehen. Die Graberei mit der Schaufel, um den Hang einzuebnen, bleibt uns leider nicht erspart. Wir befestigen ein Zelt mit Eisschrauben und Firnankern. Dann verstauen wir unsere Rucksäcke darin und machen uns auf den Weg zurück ins ABC. Kurz nach 15.30 Uhr sind wir wieder im ABC. Sieben Stunden, einschließlich Aufstellen und Einrichten des Zeltes, hinauf und retour.

Gebetsfahnen am Gipfel

7. Mai 2004: Ruhetag im ABC

8. Mai 2004: Zweiter Aufstieg ins Lager 1

Lager 1

9. Mai 2004: Erster Aufstieg ins Lager 2

In fast 7000 m eine 50° steile Eiswand zu erklimmen, erfordert tatsächlich viel Kraft und Energie.

Auszug aus meinem Tagebuch: An den Zeltwänden klebt das Eis, das sich während der Nacht aus der Atemluft gebildet hat. Es beginnt ein herrlicher Tag, windstill und warm. Hubert, Bernhard, Hannes und ich wollen Material nach Lager zwei tragen. Ich ziehe meinen Daunenanzug an, weil es trotz der Wärme fahrlässig wäre, in der dünnen Laufhose bis 7000 m aufzusteigen. Im Rucksack habe ich ein Zelt, mein Eisbeil, eine Thermosflasche mit Elektrolytgetränk, einen Gaskocher, Handschuhe, eine Sturmhaube, die Verpflegung, die ich oben brauchen werde (sie fällt spartanisch aus), und zwei Kattas (Katta = Seidenschal).
Im EisbruchDer Klettergurt sitzt an den Hüften, die Steigeisen an den Schuhen. Es kann losgehen. Gleich hinter dem Lager zieht ein steiler Grat, der mit Fixseilen versichert ist, zu einem kleinen Plateau. Es ist Gehgelände, das mit zwei Skistöcken – Trittsicherheit vorausgesetzt – problemlos zu bewältigen ist. Lang ist der Grat aber schön, ich spüre den gestrigen Tag. Langsam steigen wir aufwärts. Heute wäre ein idealer Gipfeltag. Für uns ist der allerdings zurzeit noch tabu, da wir erst vor sechs Tagen ins ABC gekommen sind.
Langsam aber stetig nähern wir uns dem Eisbruch, der Schlüsselstelle. Es ist eine circa 30 m hohe Eisbarriere in 6600 m Seehöhe. Hannes geht als erster. Er hängt seinen Jumar in das Fixseil und beginnt zu klettern. Als zweiter folge ich. Es ist kein Honiglecken, Im Eisbruchin dieser Höhe mit einem großen Rucksack am Buckel über so steiles Eis (bis 80°) zu klettern, aber ich schaffe es. Die zweite zu überwindende Flanke ist nicht so extrem steil (50°) wie der Eisbruch zuvor, aber dafür viel, viel länger. In fast 7000 m eine 50° steile Eiswand zu erklimmen, erfordert tatsächlich viel Kraft und Energie. Auf beinahe 7000 m Seehöhe, kurz nach dem zweiten Eisbruch und kurz vor Lager zwei, deponieren wir unsere Ausrüstung. Der Weg zum Gipfel ist geebnet! Wir sind fünf Stunden unterwegs. Der Abstieg ist kein Problem, so dass wir nach eineinhalb Stunden schon wieder im Lager 1 sind.

10. Mai 2004: Zurück ins ABC

11. Mai 2004: Ruhetag im ABC

Im BasislagerUnsere Köche
Basislager & Köche

12. Mai 2004: Geplanter Ruhetag im ABC, jedoch Hilfe bei der Bergung eines verletzten Schweizers.

Auszug aus meinem Tagebuch: Nach dem Mittagessen bittet uns ein gewisser Matthias um Hilfe. Die Sherpas haben den Schweizer, der Lähmungserscheinungen in den Beinen hat, aus 7500 m Seehöhe herunter getragen und sind nun im Lager 1. Sie sind mit ihren Kräften am Ende und werden die endlose Moräne nicht mehr alleine schaffen. Bernhard, Hannes, Hubert, Ronald und ich gehen gemeinsam mit Matthias und ein paar anderen die Moräne hinein. Kurz bevor wir den Killerhang erreichen, kommen uns die Sherpas mit dem etwa 90 kg schweren Verletzten entgegen. Aus einem Seil und Zeltstangen bauen Matthias und Ronald eine Trage, auf die der Patient gebettet wird. An jeder Seite der Bahre greifen drei Männer an und tragen den Schweizer, so weit sie können. Dann sind die nächsten sechs an der Reihe, dann wieder die anderen. Ich muss betonen, dass sich dieses tragische Schauspiel in fast 5.800 m Seehöhe ereignet, auf einem Moränengletscher, wo man mit sich allein schon Probleme hat, die Balance auf Schnee, Eis und Steinen zu halten. Bernhard, Hannes und Hubert geben den Takt vor. Sie mahnen zur Eile, denn sie wissen, welche Schwierigkeiten es gibt, wenn die Dunkelheit hereinbricht. So geschieht das Wunder, dass der Kranke beim letzten Tageslicht im ABC ankommt. Alle Emotionen, die sich während der Rettungsaktion in ihm aufgestaut haben, brechen nun durch und er beginnt zu weinen. Er weiß, dass er den Wettlauf gegen den Tod vor allem durch den vorbildlichen Einsatz der Sherpas gewonnen hat. Auch wir können stolz sein, ein wenig geholfen zu haben.

13. Mai 2004: Ruhetag im ABC

14. Mai 2004: Dritter Aufstieg ins Lager 1

Hubert im Lager 1

15. Mai 2004: Zweiter Aufstieg ins Lager 2, 7000 m.

Der Gipfel

16. Mai 2004: Am Thron der Göttin ...

Es ist nicht die Kraft allein, die uns höher bringt, sondern auch der Wille.

Auszug aus meinem Tagebuch: Während der Nacht reißt der Wind am Zelt. Um etwa 2 Uhr finde ich keine Ruhe mehr. Ronald meint, dass ich noch warten soll, da der Wind zu stark sei. Ich bin aber schon zu aufgedreht. Auch Bernhard und Hubert bereiten sich schon auf den Gipfelgang vor. Bis wir abmarschbereit sind, vergeht sowieso noch viel Zeit. Ich trinke ein paar Schluck Tee aus der Thermoskanne, die ich gestern vorbereitet habe. Die zweite ist im Rucksack.
Ich krieche ins Freie, um meine Steigeisen an den Expeditionsschuhen zu befestigen. Zu meiner Überraschung ist es gar nicht so kalt, wie ich es mir erwartet habe. Ich brauche keine Handschuhe, was das Schließen der Bügel und Riemen enorm erleichtert. Hannes steht einige Meter neben mir. Er ist schon fertig und geht voraus. Hubert, Bernhard und ich folgen ihm im Schein unserer Stirnlampen. Es ist 3 Uhr. Ronald braucht länger und bleibt zurück.
Steil führt der Hang hinauf bis ins Lager 3. Das Thermometer auf Hannes' Rucksack zeigt minus 20° C. Das sind hier zu diesem Zeitpunkt beinahe tropische Temperaturen. Sogar der Wind hat sich gelegt.
Huberts Füße drohen zu erfrieren. Er muss seine Schuhe ausziehen und die Zehen massieren, bis er sie wieder spürt. Das dauert lange. Da uns beim Warten kalt werden würde, gehen wir weiter. Auch Ronald hat anscheinend Probleme mit der Kälte. Er ist weit hinter uns.
So kommt es, dass Bernhard und ich plötzlich die Spitze bilden. Bei jedem Schritt bewege ich meine kalten Zehen, damit das Gefühl in ihnen bleibt. Mit den Fingern, ich trage keine Fäustlinge, mache ich es ebenso. Hoch oben am Berg ist die Sonne bereits aufgegangen. Sehnsüchtig blicke ich auf die rot glühenden Felsen. Bald werden ihre Strahlen auch uns erwärmen. Wir steigen den Felssporn bis zum Gelben Band höher. Ich hänge mich ins Seil. Mit den Augen taste ich jeden Zentimeter der Steilstufe ab. Das Gelbe BandÜber mir befindet sich ein Wulst, wo ich nicht drüber kommen werde. Ich steige eine schmale Leiste nach rechts hoch. Da ich außerhalb der Falllinie des Fixseils klettere, kann ich mich nicht am Jumar hochziehen, weil ich sonst auspendeln würde. Ich benutze diesen also nur zur Selbstsicherung. Als die Leiste zu Ende ist, steige ich schräg nach links aufwärts. Ich bin oben! War doch gar nicht so schwer!
„Nun lassen wir uns die Butter nicht mehr vom Brot nehmen", sage ich zu Bernhard. „Jetzt packen wir es", erwidert er. Wir suchen den weiteren Weg durch die Wand. Bernhard, der Stärkste von uns, gibt den Rhythmus vor.

Es ist ein Gehen in völliger Harmonie, in völliger Harmonie mit dem Freund und dem Universum.

Am GipfelgratWie synchronisiert steigen wir aufwärts. Ich weiß genau, wie weit er geht, ehe er eine Pause macht. Ich weiß genau, wie lange die Pause dauern wird. Es ist ein Gehen in völliger Harmonie, in völliger Harmonie mit dem Freund und dem Universum. Still und leise führen wir uns gegenseitig zum Gipfel. Schon sind wir im steilen Eisfeld unter der Gipfelwand. Der Ausblick auf die unendlichen Weiten Tibets kann grandioser nicht sein. Ich suche das ABC. Mir wir bewusst, wie hoch oben wir schon sind.

Als ich von unten heraufgeschaut habe, habe ich gedacht, dass es gar nicht weit ist, so nah schien mir die Gipfelwand. In Wahrheit ist hier oben alles zehn Mal weiter. In diesem Augenblick wird mir bewusst, wie hart und lang der Weg zurück sein wird. Tiefe Ehrfurcht erfüllt mich.
In der GipfelwandDie Gipfelwand ist kurz, aber steil. Bald ist auch diese überwunden. Wir stehen am großen Plateau. Wir müssen nach rechts, nicht nach links, wissen wir von den anderen Bergsteigern. Es ist nicht die Kraft allein, die uns auf dem weiten, flachen Plateau höher bringt, sondern auch der Wille. Bald werden wir es geschafft haben. Einige Bambusstöcke zeigen uns den Weg. Es klingt komisch, wenn ich sage, dass wir auf fast 8.200 m Seehöhe den Gipfel eines Achttausenders suchen müssen. Das geht am Cho Oyu allen so. Wir lassen uns nicht irritieren sondern werden immer ruhiger. Weit kann es nicht mehr sein. Das Gelände wird flacher und flacher. Bernhard und ich gehen nebeneinander. Plötzlich sehe ich Gebetsfahnen, die unscheinbar am Boden befestigt sind. Bedächtig langsam schreiten wir auf sie zu. Das muss der Gipfel sein! Noch zwei Schritte. Wir sind am Thron der Göttin! Es ist 12.30 Uhr.

Am Gipfel
Hannes, Otto und Bernhard am Gipfel des Cho Oyu

Wir haben uns in Demut genähert und die Göttin des Türkis hat uns Audienz gewährt.

Wir umarmen und beglückwünschen uns. Und kugeln im Schnee. Es hat nur minus 17° C, es ist fast windstill. Die Sonne lacht uns aus dem nahen azurblauen Himmel entgegen. Etwa 45 Minuten nach uns erreichen Hannes und Hubert den Gipfel. Und auch der Mount Everest taucht auf ...

Der Mount Everest

Das Glück ist perfekt! Ich befestige den Katta, den mir Rudi Postl beim Abschied in Kapfenberg geschenkt hat, am Boden. Am GipfelEr hat mir Glück gebracht und soll nun als Dank an die Götter im Wind wehen. Auch Hannes befestigt seine Gebetsfahnen. Wir haben uns in Demut genähert und die Göttin des Türkis hat uns Audienz gewährt!

Als wir absteigen, kommen uns Tom und Ronald entgegen. Sie befinden sich in der Gipfelwand und haben noch einen langen Weg vor sich. „Ihr seid spät", warnen wir sie. Sie entscheiden sich dafür, weiterzugehen. Erst um 16 Uhr werden sie am Gipfel sein.
Der Abstieg bereitet keine Schwierigkeiten. Ich weiß, dass ich für diese Nacht ein Zelt für mich alleine haben werde, denn Ronald wird den Weg bis hierher heute nicht mehr schaffen.

Otto beim Abstieg

Zufrieden, müde und glücklich liege ich im offenen Schlafsack. Nur 13,5 Stunden stehen zwischen 1200 Höhenmetern Aufstieg, Gipfel und 1200 Höhenmetern Abstieg. Von allen 15 Expeditionen waren wir eine von dreien, denen es gelungen ist, vom Lager zwei aus ohne Flaschensauerstoff und ohne die Hilfe von Hochträgern den Gipfel zu erreichen.
Hubert hat Recht gehabt, als er sagte: „Wir sind Sunnyboys und werden das Glück auf unserer Seite haben!" Wichtig ist, dass wir Achtung vor dem Berg gezeigt haben. Wenn du den Berg achtest, dann wird er dich achten. Wir haben uns in Demut genähert ...

Wir haben den Gipfel ohne Führer, Sherpas und Sauerstoff geschafft. Darauf sind wir besonders stolz. Mehr als auf den Gipfel selbst.

Die Rückkehr

17. Mai 2004: Zurück ins ABC. Ronald schläft eine weitere Nacht im Lager zwei.

Nach der Rückkehr

18. Mai 2004: Ruhetag im ABC. Ronald kommt am Nachmittag ins ABC.

19. Mai 2004: Vom ABC nach Tingri. Nacht in Tingri.

20. Mai 2004: Von Tingri nach Kodari. Wir sind wieder in Nepal.

21. Mai 2004: Von Kodari nach Kathmandu.

22. bis 27. Mai 2004: Sightseeing in und um Kathmandu.

28. Mai 2004: Ankunft in Wien, wo wir von unseren Freunden sehr nett empfangen wurden. Fahrt in die Breitenau, wo wir ebenfalls von vielen Freunden begrüßt und beglückwünscht wurden.

Cho Oyu

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