Die Nabelschnur des Alpinisten Die Geschichte des Bergseils
Schließt
man die Augen und lässt verträumt Bilder entstehen, die man mit
Erlebnissen beim Bergsteigen verbindet, wird unweigerlich bei jedem ein
Moment auftauchen, in dem das Seil eine entscheidende Rolle einnimmt. Vielleicht
der Augenblick, wo man sein erstes eigenes Seil ehrfürchtig durch die
Hände gleiten ließ, vielleicht der Tag, an dem man sich mit Herzklopfen
auf seine erste Abseilfahrt in die Tiefe begab, vielleicht aber gar auch
eine Situation, in der ein Seil das Schlimmste verhinderte: einen Sturz
im Steilfels oder in eine Gletscherspalte, den Abbruch einer Wechte am Grat
oder einen schnellen Rückzug vor dem nahenden Gewitter!
Das
Bergseil - der Kletterstrick - the rope war und ist das Symbol des Alpinismus
schlechthin. Sein Gebrauch drückt aus, dass ein Bergwanderer auch Bergsteiger
geworden
ist, sei es auf Hochtouren oder Kletterfahrten. Bilddokumente aus den Anfängen
des Alpinismus zeigen Bergführer, wie sie stolz das Seil in sauberen
Schlingen um Schulter und Brust gelegt haben und mit einem Eispickel in
der Hand einem neu entstehenden Berufsstand Würde und Ausdruckskraft
verleihen. Für Kletterer sind die 45- oder 50-Meter-Seile nicht nur
ein Gebrauchsgegenstand. Ein Seil verborgt man nicht, heißt es, sorgfältig
und pfleglich sei der Umgang mit ihm. Es hängt schließlich im
wahrsten Sinne des Wortes an jedem Ende ein Leben daran!
Der
Gebrauch des Seils drückt aus, dass ein Bergwanderer auch Bergsteiger
geworden ist.
In
der Tat ist das Seil ein Lebensnerv, eine Art Nabelschnur, die über
ihren funktionellen Wert hinaus dem Bergsteiger Sicherheit gibt. Wenn
man sich etwa in der Obhut eines Bergführers am kurzen Seil trotz
atemberaubender Gebirgswelt geborgen fühlt oder sich, verbunden mit
einem guten Partner oder Partnerin, zutraut, beim Klettern einen Schritt
weiter an seine Grenzen zu gehen!
Erst mit der Entdeckung des Seiles für das Bergsteigen war mehr möglich
geworden, konnten die Menschen es wagen, schwierigere Gipfel zu besteigen
und Wände, Grate und Flanken für sich zu entdecken, von denen
aus sie neue Perspektiven einnehmen konnten.
Stets
fürchtet sich der Anfänger vor dem Abwärtsgehen, da es
viel schwieriger sei als das Aufsteigen.
1885
schrieb Emil Zsigmondy: "Wichtiger ist der Gebrauch des Seiles
beim Abwärtsklettern. Stets fürchtet sich der Anfänger
vor dem Abwärtsgehen, da es viel schwieriger sei als das Aufsteigen."
Dies blieb nicht lange der einzige Aspekt. Bald schon nutzten die Gipfelstürmer
das Seil zum Hinaufkommen, zum Absichern und Queren.
So ist die Weiterentwicklung des Bergseiles aufs Engste mit der Entwicklung
des Kletterns verbunden. Als die Mauerhaken aufkamen, ermöglichte
es die ersten extremen Steilwandklettereien bis hin zum VI. Grad, verband
es die hart gesottenen Nordwandpioniere bei der Lösung der letzten
Probleme der Alpen, erlaubte es den Kletterern in der Direttissima-Zeit,
der Linie des fallenden Tropfens zu folgen, und machte die unglaubliche
Leistungsexplosion der Sportklettergeneration erst möglich, als diese
sich einlassen konnte, bei optimaler Sicherung in die perfekten High Tech-Seile
der Neuzeit hineinzustürzen.
Leider sind mit dem Bergseil aber auch immer wieder ergreifende und tragische
Augenblicke verbunden. Unzählige Dokumentationen gibt es darüber.
Von Verlust und Beschädigung durch Steinschlag ist da die Rede oder
von Seilrissen meist durch falsche Handhabung, die die Kletterhistorie
traurigerweise seit der Erstbesteigung des Matterhorns aufzeichnet.
Eines der bewegendsten und unfassbarsten Schicksale, das man im Alpinismus
kennt, ist gewiss der erschütternde Erschöpfungstod des Toni
Kurz in der Eigernordwand, der es nicht mehr schaffte, nach unvorstellbaren
Qualen die letzten Meter ins Leben abzuseilen, weil ein Knoten seinen
Abseilkarabiner blockierte!
Die Geschichte des Toni Kurz siehe unten ...
Historische
Daten
1786:
Bei der Erstbesteigung des Mont Blanc werden Seile nur zu Transport und
Bergung benutzt.
1865:
Ein Seil aus weißem Manilahanf mit 12 mm Durchmesser kommt bei der
Erstbesteigung des Matterhorns zum Einsatz.
Ende
des 19.Jahrhunderts: Das Bergseil gewinnt immer größere
Bedeutung. Die Bergführer sichern ihre Kunden und die Führerlosen
benutzen es vor allem, um sich das Abklettern zu erleichtern.
Anfang
des 20. Jahrhunderts: Die Mauerhaken kommen immer mehr auf und erlauben
eine Absicherung der Kletterer auch im Vorstieg. Bei der Erstbegehung
der Fleischbank-Ostwand soll das Seil zum ersten Mal als Hilfsmittel im
Aufstieg eingesetzt worden sein.
Bis
1941: Gedrehte oder spiralgeflochtene Seile aus Hanf oder Seelenseile
aus reiner Naturseide sind die gebräuchlichsten Bergseilkonstruktionen.
1941:
Erste gedrehte Nylonseile aus Amerika
1950:
Erste französische Nylonseile mit Seele
1953:
Erste "Kernmantel"-Seile
1964:
Erstmals wird ein internationales Prüfzeichen für Bergseile
ausgestellt.
Mitte
der Sechziger bis Ende der Siebziger Jahre: ständige Verbesserung
der Kernmantelseile in Bezug auf Festigkeit, Arbeitsvermögen und
Handling. Spezialimprägnierungen verhindern zu starke Feuchtigkeitsaufnahme
Achtziger
Jahre: Die Zwillingsseiltechnik findet immer mehr Anwender.
Und
heute? High Tech garantiert größtmögliche Sicherheit
bei größtmöglicher Leichtigkeit und optimierten Handhabungseigenschaften.
Für alle Spielformen des Alpinismus existieren spezielle Bergseile.
Ein
Knoten wird zum Verhängnis
Jeder
Bergbegeisterte kennt die Eiger-Nordwand und die Namen ihrer Schlüsselstellen:
die Spinne, die Rampe und vor allem den Hinterstoißer-Quergang.
Toni Kurz und Anderl Hinterstoißer wagten 1936 als erste den schweren
Seilzugquergang. Eine Pioniertat, die zum wichtigen Baustein für
den späteren Durchsteigungserfolg wurde.
Bei
ihrem Versuch in der Wand rückten Bergseile in den Mittelpunkt des
Geschehens und ihre Namen stehen für eine der schrecklichsten Tragödien,
die in der alpinen Geschichte dokumentiert ist!
An
den Fernrohren vor den Hotels der Kleinen Scheidegg haben sich trotz der
frühen Morgenstunde schon einige Schaulustige eingefunden. Es ist
etwa 9 Uhr am Freitag, den 18. Juli 1936. Die, die da einen Blick durch
die Teleskope in das gewaltige Konkav der Eigernordwand erhaschen wollen,
wissen, dass sich dort Bergsteiger befinden. Sie sind vorbereitet, denn
die Schlagzeilen der Zeitungen haben in den letzten Tagen dramatische
Ereignisse in der Eigerwand in Aussicht gestellt. Eine knisternde Spannung
hat sich unter Journalisten und Touristen aufgebaut, denn gleich mehrere
Seilschaften haben ihre Zelte unter dem Eiger aufgeschlagen. Wird es wieder
zu einem ähnlich erschütternden Unglück kommen wie im August
letzten Jahres, als die Münchener Mehringer und Sedlmayr hoch oben
in der Wand vermutlich an Unterkühlung, Erschöpfung und schließlich
Absturz starben?
Seit
Sonnenaufgang macht es die Runde in den Hotels. Vier Bergsteiger sind
in der Wand: die Berchtesgadener Andreas Hinterstoißer und Toni
Kurz und die Österreicher Willy Angerer und Edi Rainer. Doch das,
was man jetzt gegen 9 Uhr von den Alpinisten zu sehen bekommt, sieht nicht
nach einer Tragödie aus. Da scheinen Spitzenkletterer tätig
zu sein. Vor allem Hinterstoißer und Kurz, seit 1934 sind sie bei
den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall. Wer gerade einen Blick durch
das Fernrohr werfen kann, wird Zeuge, wie Hinterstoißer eine glatte,
ca. 30 Meter breite Platte mit Hilfe eines Seilzugquergangs schräg
abwärts traversiert. Eine Technik, die schon Hans Dülfer berühmt
machte und die Hinterstoißer perfekt beherrscht.
Die Überwindung der Platte ist der Schlüssel zum weiteren Aufstieg.
Hinterstoißer schafft den Quergang und spannt ein Seil, an dem Kurz
und die mittlerweile aufschließenden Österreicher ohne Probleme
hinüber hangeln können. Das Ganze dauert gerade einmal zwei
Stunden. "Wenn die so weitermachen, erreichen die zügig den
Gipfel", vermuten die Beobachter. Sie sehen, wie Hinterstoißer
das Geländerseil aus dem Quergang abzieht, nachdem alle die Stelle
bewältigt haben.
Niemand ahnt zu dem Zeitpunkt, dass der Abzug des Seiles der Auftakt zu
einem der schrecklichsten Unglücke in der alpinen Geschichte sein
würde. Dieser Quergang, der später den Namen "Hinterstoißer-Quergang"
erhält, sollte zur Falle für die vier Bergsteiger werden.
Die
beiden Deutschen kommen gut voran, schließen sich aber mit den langsamer
werdenden Österreichern zu einer Seilschaft zusammen, da Angerer
offenbar durch Steinschlag verletzt wurde. Sie erreichen das zweite Eisfeld
und biwakieren. Am nächsten Tag, am 19. Juli, verhüllt immer
wieder Nebel die Wand, die Kletterer überwinden nur 200 Höhenmeter
und verbringen die Nacht auf dem "Bügeleisen". Am 20. Juli
erreichen sie das "Todesbiwak", die Stelle, an der Mehringer
und Sedlmayr ums Leben kamen, und müssen erkennen, das sie mit dem
verletzten Angerer nicht weiter aufsteigen können. Also Rückzug.
Immer noch ist die Wand die meiste Zeit in Nebel gehüllt, es kündigt
sich ein Wettersturz an. Gegen 20.30 Uhr richten sie ihr drittes Biwak
am oberen Rand des ersten Eisfeldes ein. In der Nacht schlägt das
Wetter endgültig um. Am 21. Juli schneit es ohne Unterlass, Neuschneerutsche
und Steinschlag gefährden die vier Bergsteiger beim Abstieg. Als
sie schließlich das linke Ende des Quergangs wieder erreichen, wähnt
man die vier bereits in Sicherheit, befinden sie sich doch in der Nähe
eines Stollenloches der Jungfraubahn, von dem aus sie sogar gesehen werden.
Doch sie können bei diesen Verhältnissen den Quergang ohne das
Seil nicht zurück klettern! In der Sturzbahn von Lawinenabgängen
und Steinschlag muss über eine 100 Meter hohe Wandstufe direkt abgeseilt
werden.
Während
der Streckenwart schon heißen Tee zu ihrem Empfang holen geht, geschieht
das Unglück: Drei der Bergsteiger kommen durch einen Lawinen- und
Steinschlagabgang ums Leben, nur Toni Kurz lebt noch.
Seine Hilferufe werden vom Streckenwart gehört. Schweizer Bergführer
eilen herbei, müssen jedoch wegen der beginnenden Nacht abbrechen.
Am nächsten Tag sind die Helfer nur noch 40 Meter entfernt, dann
aber kommen sie nicht weiter. Die Retter sehen nur noch eine Möglichkeit:
Toni Kurz soll aus Seilresten die Litzen herausdrehen, aneinander knoten,
damit ein Seil zu sich herauf ziehen und sich selbst abseilen. Um die
erforderliche Länge zu haben, wurden zwei 30-m-Seile durch einen
Knoten verbunden. Drei Stunden benötigt Toni Kurz, bis er das Seil
heraufgezogen hat, seine linke Hand war in der Nacht erfroren. Dann beginnt
er, sich im Karabinersitz abzuseilen, kommt bis unter einen Überhang,
ist nur noch wenige Meter von den Helfern entfernt: Der Knoten steckt
im Karabiner fest! Mit allerletzten Kräften versucht er noch, sich
irgendwie zu befreien. Doch er ist am Ende. Hilflos sind die Schweizer
Bergführer dazu verurteilt, mit anzusehen, wie Toni Kurz vor ihren
Augen stirbt.
Was
muss der 23-jährige Toni Kurz durchgemacht haben? Woher nahm er die
Kraft, so lange gegen den Tod anzukämpfen? Man wird es nie erfahren.
Ein unfassbares Schicksal im Angesicht der Schweizer Bergführer - eines
der bewegendsten, das man im Alpinismus kennt!