Vor fünfzig
Jahren, am Nachmittag des 19. Oktober 1954, betrat der Wiener Herbert
Tichy gemeinsam mit seinem Tiroler Weggefährten Sepp Jöchler
und der Sherpa-Legende Pasang Dawa Lama als erster Mensch den Thron der
"Göttin in Türkis", wie der Cho Oyu, der sechsthöchste
Berg der Welt, genannt wird. Dieser alpingeschichtliche Erfolg war der
Höhepunkt von Tichys lebenslanger Wanderung durch die Landschaften
Nepals und Tibets.
Tichy
war Forscher, Abenteurer und Bergsteiger, er war Menschenfreund, Weltbürger
und Philosoph. Er bereiste und erkundete die Welt, nicht um sich in ihr
auszutoben, sondern sie zu erfühlen, zu verstehen. Das macht ihn
noch heute zum Vorreiter einer Generation, die auf seinen Spuren und in
seinem Sinne die Welt durchwandert. Tichy steht ebenso für modernes
Globotrottertum wie für jenen Urtypos des sanften, forschenden Touristen,
der offenen Auges und Herzens die Landschaften der Welt erkundet, ohne
eine Forderung an sie zu stellen. "In diesem Gebirge [Himalaja,
Anm.] wusste ich, dass man diesem Himmel und allem, was er bedeutet, vielleicht
am ehesten nahekam, wenn sich auf sich selbst beschränkte und das
winzige Stück Himmel pflegte, das in jedem von uns ist", erklärte
er den Grundsatz seiner Reisen.
Bücher wie "Im Land der namenlosen Berge", "Zum
heiligsten Berg der Welt" oder "Cho Oyu - Gnade der Götter"
wurden Bestseller, seine Reiseberichte Manifeste des natur- und menschennahen
Weltreisens.
Der Globetrotter
Die
Ersteigung des Cho Oyu war nicht mit Krampf angesteuerter Zielpunkt, sondern
eher zufälliger Höhepunkt zahlreicher Asienreisen, die Tichy
von jungen Jahren an unternommen hat. Die 8000er-Expedition war spontan
geplant und keineswegs der Lebensinhalt des "wilden Hundes"
Herbert Tichy. Es kam ihm eben in den Sinn, er hatte Lust darauf - signifikant
für einen Charakter, der den Augenblick zu genießen weiß.
Genauso intuitiv durchstriff er 1935 mit einer Puch 250-Geländesportmaschine
Kaschmir, um hier geologischen Studien zu betreiben. In der Folge bereiste
er Burma, das Kopfjägergebiet der Naga und begab sich auf den Spuren
des berühmten Sven Hedin nach Tibet. Als indischer Pilger verkleidet
gelangte er durch das verbotene Land bis an den Fuß des heiligen
Berges Kailash, den er demutsvoll umrundete. Schließlich durchquerte
er auch noch per Motorrad Afghanistan.
Der
8.153 hohe Cho Oyu rückte bei seinen Himalajareisen jedoch immer
mehr in seinen Blick. Der Berggigant war dabei schon 1952 Ziel bergsteigerischer
Begehrlichkeiten: Eine britische Expedition, der auch Hillary angehörte,
gelangte damals bis auf 6.800 Meter und musste umkehren, weil man einen
Eisbruch für unbewältigbar hielt. Tichy und seine Freunde lösten
das Problem an einem Nachmittag.
©
Bernhard
Teischl
Erste
Expedition in alpinem Stil
Tichys
Plan war es nun, einen Achttausender mit möglichst wenig Personal
und finanziellen Mitteln zu besteigen. Er setzte nicht auf den aufwendigen
und teuren Expeditionsstil, wie es damals Mode war, sondern wollte - lange
vor Reinhold Messner! - im sog. "alpinen Stil", also nur mit
kleiner Mannschaft, bescheidenster Ausrüstung und ohne Benützung
von Flaschensauerstoff auf den sechsthöchsten Berg der Welt. Dieses
Konzept bedeutete damals eine neue Dimension des Bergsteigens in extremen
Höhen und löste dementsprechend Kopfschütteln in Fachkreisen
aus. Allerdings stand hinter dieser Bescheidenheit nicht die Absicht des
Spektakulären, sondern die größtmögliche Nähe
zur Umgebung, zur Natur, zu den Menschen. Hartnäckig, wie Tichy nun
mal war, kratzte er in nur zwei Monaten das unbedingt nötige Geld
zusammen und "heuerte" sieben Sherpas - darunter Sherpa-Legende
Pasang Dawa Lama - sowie zwei Tiroler Wegbegleiter an: Sepp Jöchler,
der mit Hermann Buhl die Eiger Nordwand bestiegen hatte, und den Geograph
Dr. Helmut Heuberger - beide ausgezeichnete Bergsteiger.
Mit
800 Kilogramm Ausrüstung zog er am 2. September 1954 von Bhaktapur
los, erreichte Namche Bazar und gelangte durch das Solo Khumbu-Gebiet
bis zum Nangpa La, dem Grenzpass zwischen Nepal und Tibet. Von dort startet
Tichy seinen historischen Gipfelgang. Anfangs läuft alles glatt,
problemlos finden sie den Zugang zur vergletscherten Westflanke, der einzig
gangbare Weg durch Gletscherlabyrinthe und Eisbrüche öffnet
sich quasi von selbst. Auf 6.200 m schlagen sie auf einem günstigen
Platz Lager II auf, wagen einen Vorstoß auf 6.600 m, um knapp vor
jenem Eisbruch, der schon die Briten vor unlösbare Probleme stellte,
umzukehren. Am nächsten Tag durchsteigen sie die Stelle und errichten
Lager III.
Wolkenloses
Wetters macht Tichy hoffen, bereits am übernächsten Tag den
Gipfel erreichen zu können. Mit Pasang und anderen Trägern steigt
er mit leichtem Gepäck auf knapp 7.000 Meter hoch, wo es zu stürmen
beginnt. Mit 120 kmh und 30 Grad unter Null erleben sie eine Hölle,
wie sie nur am Cho Oyu stattfinden kann. Beim Versuch die Zelte zu retten,
verliert Tichy die Fäustlinge, seine Finger drohen zu erfrieren.
"Hinunter, hinunter!", schreien die Sherpas. Mit tobenden
Schmerzen in den blutlosen Händen kämpft sich Tichy ins Lager
II zurück. Dort schwellen seine Hände auf das Doppelte an, Heuberger
muss die Blasen aufschneiden.
Als
sich wenige Tage später eine Schweizer Expedition anschickt, sie
auf dem Weg zum Gipfel zu überholen, fasst Tichy den Beschluss, trotz
seiner lädierten Hände bis Lager III aufzusteigen. Von dort
aus sollen dann Heuberger und Jöchler den Gipfel versuchen. Auch
das ein prägnanter Wesenszug Tichys: Er hat nicht lange "gefackelt",
sondern schnell und oft aus dem Bauch heraus entschieden. Dieselbe Entschlusskraft
wird ihm ein paar Tage später mit den Gipfel bescheren. In einem
Zug stapfen sie von Lager I bis Lager III und graben sich dort eine Schneehöhle
eine brillante Idee angesichts der bereits erfahrenen Höhenstürme.
Jöchler und der Sherpa Adjiba erreichen am nächsten Tag Lager
IV, steigen weiter, wollen auf den Gipfel - eiskalter Sturm wirft sie
jedoch wieder zurück.
Wilde
Begierde
Das
Wetter verschlechtert sich, eisiger Sturm hält die drei in ihrer
Höhle gefangen. Heuberger versorgt Tichy mit kreislauffördernden
Injektionen, noch immer sind die Finger so sehr angeschwollen, dass jeder
Handgriff zur Qual wird. Als am übernächsten Tag der Sturm nachlässt,
keimt Hoffnung: "Der Gipfel ist kein unverantwortliches Wagnis
mehr, sondern ein gerechtfertigter Versuch", motiviert Tichy
seine Weggefährten.
Der
Aufbruch zum Gipfel erklärt sich für Tichy aus der "fast
wilden Begierde, das Leben und seine äußersten Möglichkeiten
zu erproben" - bezeichnend für die Lebensphilosphie des
Lebenskünstlers und -genießers. Schnell erreichen sie Lager
IV, stellen Zelte auf. Der Plan: Sepp Jöchler und Pasang sollen zum
Gipfel aufbrechen, Tichy und Heuberger ihnen nötigenfalls mit Zelt
und Schlafsäcken entgegengehen. Über Nacht überlegt es
sich Tichy jedoch anders - er will mit auf den Gipfel.
Drei Uhr morgens, wolkenloser Himmel: "Ein guter Tag für
den Gipfel". Als die Sonne das Bergmeer Tibets blutrot färbt,
kriechen sie aus dem Zelt und brechen auf: Sepp Jöchler, Herbert
Tichy und Pasang Dawa Lama. Jöchler friert, sodass er ans Umkehren
denken muss, quält sich weiter. "Immer sind steile, unendlich
scheinende Eiswände vor und über uns", die sie aber
zügig überwinden. Erst auf der sog. "Schulter" die
erste Rast, dann weiter und höher bis über die 8000-Meter-Marke,
"Wir sind willenlose Maschinen, die nichts anderes können
als weitergehen. Oder vielleicht sind wir nur der Wille, der hinauf muss,
den Körper weiterzwingt". Die letzten unschwierigen Stunden
vor dem Erreichen des Gipfels werden zum "glückhaften Gehen",
sie wissen, dass sie es schaffen werden. "Endlich wird der Hang
flacher, die Sicht weiter. Plötzlich ist keine Steigung mehr vor
uns, nur ein unbegrenzter Blick. Wir haben den Gipfel erreicht."
Die
Nähe des Himmels
19.
Oktober 1954, drei Uhr nachmittags. "Der Gipfel, Sahib, der Gipfel!",
schreit Pasang außer sich vor Glück. Am K2 und Dhaulagiri ist
er gescheitert, die große Sehnsucht seines Lebens hat sich hier
am Cho Oyu endlich erfüllt. Die drei umarmen und küssen einander,
gehen Arm in Arm auf den bis dato von keinem Menschen betretenen höchsten
Punkt des Cho Oyu. "Das Erreichen des Gipfels ist großartig,
aber die Nähe des Himmels überwältigend. Wenige Menschen
sind ihm vor uns näher gekommen." Um sie herum Mount Everest,
Lhotse, Nuptse, Makalu.
Als "Dank für die Gnade der Götter" vergraben
sie Schokolade im Gipfelschnee - eine im Himalaja durchaus übliche
Zeremonie, schießen Fotos mit beflaggtem Pickel, Herbert Tichy kniet
sich in Demut nieder, bleibt in dieser Stellung, "der einzig richtigen,
die mir zukommt -, und ich weiß, dass wir auf verschiedene Art dem
einzigen Gott gedankt haben". Auch diese innige, nicht ungläubige
Demut ein Wesenszug Tichys, der ihn zur zeitlosen Identifikationsfigur
- nicht nur bei Bergsteigern - macht.
Jöchler,
Tichy, Pasang nach dem Gipfelerfolg
Spuren
im Schnee
Viele
Jahre später und wenige Monate vor seinem Tod, bekennt Herbert Tichy
1987: "Ich würde mich nie als extremen Alpinisten bezeichnen.
Ich habe das Glück gehabt, mit sehr jungen Jahren in den Himalaja
zu kommen, und es war eher eine Suche nach Schönheit, fremden Menschen,
nach Ausblicken vielleicht, aber es hat nichts zu tun damit, was heute
richtige Könner des Alpinismus auf den schwierigsten Routen leisten.
Auch wenn wir auf den Cho Oyu gekommen sind, so würde ich das nicht
als eine extreme Leistung, sondern eher als ein harmonisches Vorwärtsdringen
in zu der damaligen Zeit noch selten erreichte Höhen beschreiben.
Wenn wir uns erinnern an diese Zeit, so bleibt weniger das Extreme, sondern
eher die Harmonie und die Schönheit in Erinnerung - der Stunden,
der Landschaft und der umgebenden Menschen."
Am 26. September
1987 stirbt Herbert Tichy. Zurück bleiben tausende Fotos, Notizen,
Briefe und eine Pflanze, die Tichy mit den Stummeln seiner geliebten 3er-Zigaretten
gedüngt hat. Doch seine Spuren im Schnee das Himalaya sind für
viele Reisende sichtbarer denn je. |