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9. Oktober 1954
Herbert Tichy
am Cho Oyu
Herbert Tichy am Cho Oyu
Vor fünfzig Jahren, am Nachmittag des 19. Oktober 1954, betrat der Wiener Herbert Tichy gemeinsam mit seinem Tiroler Weggefährten Sepp Jöchler und der Sherpa-Legende Pasang Dawa Lama als erster Mensch den Thron der "Göttin in Türkis", wie der Cho Oyu, der sechsthöchste Berg der Welt, genannt wird. Dieser alpingeschichtliche Erfolg war der Höhepunkt von Tichys lebenslanger Wanderung durch die Landschaften Nepals und Tibets.

Herbert TichyTichy war Forscher, Abenteurer und Bergsteiger, er war Menschenfreund, Weltbürger und Philosoph. Er bereiste und erkundete die Welt, nicht um sich in ihr auszutoben, sondern sie zu erfühlen, zu verstehen. Das macht ihn noch heute zum Vorreiter einer Generation, die auf seinen Spuren und in seinem Sinne die Welt durchwandert. Tichy steht ebenso für modernes Globotrottertum wie für jenen Urtypos des sanften, forschenden Touristen, der offenen Auges und Herzens die Landschaften der Welt erkundet, ohne eine Forderung an sie zu stellen. "In diesem Gebirge [Himalaja, Anm.] wusste ich, dass man diesem Himmel und allem, was er bedeutet, vielleicht am ehesten nahekam, wenn sich auf sich selbst beschränkte und das winzige Stück Himmel pflegte, das in jedem von uns ist", erklärte er den Grundsatz seiner Reisen. Bücher wie "Im Land der namenlosen Berge", "Zum heiligsten Berg der Welt" oder "Cho Oyu - Gnade der Götter" wurden Bestseller, seine Reiseberichte Manifeste des natur- und menschennahen Weltreisens.

Der Globetrotter

Tichy mit seiner PuchDie Ersteigung des Cho Oyu war nicht mit Krampf angesteuerter Zielpunkt, sondern eher zufälliger Höhepunkt zahlreicher Asienreisen, die Tichy von jungen Jahren an unternommen hat. Die 8000er-Expedition war spontan geplant und keineswegs der Lebensinhalt des "wilden Hundes" Herbert Tichy. Es kam ihm eben in den Sinn, er hatte Lust darauf - signifikant für einen Charakter, der den Augenblick zu genießen weiß. Genauso intuitiv durchstriff er 1935 mit einer Puch 250-Geländesportmaschine Kaschmir, um hier geologischen Studien zu betreiben. In der Folge bereiste er Burma, das Kopfjägergebiet der Naga und begab sich auf den Spuren des berühmten Sven Hedin nach Tibet. Als indischer Pilger verkleidet gelangte er durch das verbotene Land bis an den Fuß des heiligen Berges Kailash, den er demutsvoll umrundete. Schließlich durchquerte er auch noch per Motorrad Afghanistan.

Der 8.153 hohe Cho Oyu rückte bei seinen Himalajareisen jedoch immer mehr in seinen Blick. Der Berggigant war dabei schon 1952 Ziel bergsteigerischer Begehrlichkeiten: Eine britische Expedition, der auch Hillary angehörte, gelangte damals bis auf 6.800 Meter und musste umkehren, weil man einen Eisbruch für unbewältigbar hielt. Tichy und seine Freunde lösten das Problem an einem Nachmittag.

Die Göttin in Türkis
© Bernhard Teischl

Erste Expedition in alpinem Stil

Tichys Plan war es nun, einen Achttausender mit möglichst wenig Personal und finanziellen Mitteln zu besteigen. Er setzte nicht auf den aufwendigen und teuren Expeditionsstil, wie es damals Mode war, sondern wollte - lange vor Reinhold Messner! - im sog. "alpinen Stil", also nur mit kleiner Mannschaft, bescheidenster Ausrüstung und ohne Benützung von Flaschensauerstoff auf den sechsthöchsten Berg der Welt. Dieses Konzept bedeutete damals eine neue Dimension des Bergsteigens in extremen Höhen und löste dementsprechend Kopfschütteln in Fachkreisen aus. Allerdings stand hinter dieser Bescheidenheit nicht die Absicht des Spektakulären, sondern die größtmögliche Nähe zur Umgebung, zur Natur, zu den Menschen. Hartnäckig, wie Tichy nun mal war, kratzte er in nur zwei Monaten das unbedingt nötige Geld zusammen und "heuerte" sieben Sherpas - darunter Sherpa-Legende Pasang Dawa Lama - sowie zwei Tiroler Wegbegleiter an: Sepp Jöchler, der mit Hermann Buhl die Eiger Nordwand bestiegen hatte, und den Geograph Dr. Helmut Heuberger - beide ausgezeichnete Bergsteiger.

Mit 800 Kilogramm Ausrüstung zog er am 2. September 1954 von Bhaktapur los, erreichte Namche Bazar und gelangte durch das Solo Khumbu-Gebiet bis zum Nangpa La, dem Grenzpass zwischen Nepal und Tibet. Von dort startet Tichy seinen historischen Gipfelgang. Anfangs läuft alles glatt, problemlos finden sie den Zugang zur vergletscherten Westflanke, der einzig gangbare Weg durch Gletscherlabyrinthe und Eisbrüche öffnet sich quasi von selbst. Auf 6.200 m schlagen sie auf einem günstigen Platz Lager II auf, wagen einen Vorstoß auf 6.600 m, um knapp vor jenem Eisbruch, der schon die Briten vor unlösbare Probleme stellte, umzukehren. Am nächsten Tag durchsteigen sie die Stelle und errichten Lager III.

Herbert Tichy mit ErfrierungenWolkenloses Wetters macht Tichy hoffen, bereits am übernächsten Tag den Gipfel erreichen zu können. Mit Pasang und anderen Trägern steigt er mit leichtem Gepäck auf knapp 7.000 Meter hoch, wo es zu stürmen beginnt. Mit 120 kmh und 30 Grad unter Null erleben sie eine Hölle, wie sie nur am Cho Oyu stattfinden kann. Beim Versuch die Zelte zu retten, verliert Tichy die Fäustlinge, seine Finger drohen zu erfrieren. "Hinunter, hinunter!", schreien die Sherpas. Mit tobenden Schmerzen in den blutlosen Händen kämpft sich Tichy ins Lager II zurück. Dort schwellen seine Hände auf das Doppelte an, Heuberger muss die Blasen aufschneiden.

Als sich wenige Tage später eine Schweizer Expedition anschickt, sie auf dem Weg zum Gipfel zu überholen, fasst Tichy den Beschluss, trotz seiner lädierten Hände bis Lager III aufzusteigen. Von dort aus sollen dann Heuberger und Jöchler den Gipfel versuchen. Auch das ein prägnanter Wesenszug Tichys: Er hat nicht lange "gefackelt", sondern schnell und oft aus dem Bauch heraus entschieden. Dieselbe Entschlusskraft wird ihm ein paar Tage später mit den Gipfel bescheren. In einem Zug stapfen sie von Lager I bis Lager III und graben sich dort eine Schneehöhle – eine brillante Idee angesichts der bereits erfahrenen Höhenstürme. Jöchler und der Sherpa Adjiba erreichen am nächsten Tag Lager IV, steigen weiter, wollen auf den Gipfel - eiskalter Sturm wirft sie jedoch wieder zurück.

Wilde Begierde

HimalajaDas Wetter verschlechtert sich, eisiger Sturm hält die drei in ihrer Höhle gefangen. Heuberger versorgt Tichy mit kreislauffördernden Injektionen, noch immer sind die Finger so sehr angeschwollen, dass jeder Handgriff zur Qual wird. Als am übernächsten Tag der Sturm nachlässt, keimt Hoffnung: "Der Gipfel ist kein unverantwortliches Wagnis mehr, sondern ein gerechtfertigter Versuch", motiviert Tichy seine Weggefährten.

Der Aufbruch zum Gipfel erklärt sich für Tichy aus der "fast wilden Begierde, das Leben und seine äußersten Möglichkeiten zu erproben" - bezeichnend für die Lebensphilosphie des Lebenskünstlers und -genießers. Schnell erreichen sie Lager IV, stellen Zelte auf. Der Plan: Sepp Jöchler und Pasang sollen zum Gipfel aufbrechen, Tichy und Heuberger ihnen nötigenfalls mit Zelt und Schlafsäcken entgegengehen. Über Nacht überlegt es sich Tichy jedoch anders - er will mit auf den Gipfel.
Drei Uhr morgens, wolkenloser Himmel: "Ein guter Tag für den Gipfel". Als die Sonne das Bergmeer Tibets blutrot färbt, kriechen sie aus dem Zelt und brechen auf: Sepp Jöchler, Herbert Tichy und Pasang Dawa Lama. Jöchler friert, sodass er ans Umkehren denken muss, quält sich weiter. "Immer sind steile, unendlich scheinende Eiswände vor und über uns", die sie aber zügig überwinden. Erst auf der sog. "Schulter" die erste Rast, dann weiter und höher bis über die 8000-Meter-Marke, "Wir sind willenlose Maschinen, die nichts anderes können als weitergehen. Oder vielleicht sind wir nur der Wille, der hinauf muss, den Körper weiterzwingt". Die letzten unschwierigen Stunden vor dem Erreichen des Gipfels werden zum "glückhaften Gehen", sie wissen, dass sie es schaffen werden. "Endlich wird der Hang flacher, die Sicht weiter. Plötzlich ist keine Steigung mehr vor uns, nur ein unbegrenzter Blick. Wir haben den Gipfel erreicht."

Die Nähe des Himmels

Herbert Tichy und Pasang am Gipfel des Cho Oyu19. Oktober 1954, drei Uhr nachmittags. "Der Gipfel, Sahib, der Gipfel!", schreit Pasang außer sich vor Glück. Am K2 und Dhaulagiri ist er gescheitert, die große Sehnsucht seines Lebens hat sich hier am Cho Oyu endlich erfüllt. Die drei umarmen und küssen einander, gehen Arm in Arm auf den bis dato von keinem Menschen betretenen höchsten Punkt des Cho Oyu. "Das Erreichen des Gipfels ist großartig, aber die Nähe des Himmels überwältigend. Wenige Menschen sind ihm vor uns näher gekommen." Um sie herum Mount Everest, Lhotse, Nuptse, Makalu.
Als "Dank für die Gnade der Götter" vergraben sie Schokolade im Gipfelschnee - eine im Himalaja durchaus übliche Zeremonie, schießen Fotos mit beflaggtem Pickel, Herbert Tichy kniet sich in Demut nieder, bleibt in dieser Stellung, "der einzig richtigen, die mir zukommt -, und ich weiß, dass wir auf verschiedene Art dem einzigen Gott gedankt haben". Auch diese innige, nicht ungläubige Demut ein Wesenszug Tichys, der ihn zur zeitlosen Identifikationsfigur - nicht nur bei Bergsteigern - macht.

Jöchler, Tichy, Pasang
Jöchler, Tichy, Pasang nach dem Gipfelerfolg

Spuren im Schnee

Viele Jahre später und wenige Monate vor seinem Tod, bekennt Herbert Tichy 1987: "Ich würde mich nie als extremen Alpinisten bezeichnen. Ich habe das Glück gehabt, mit sehr jungen Jahren in den Himalaja zu kommen, und es war eher eine Suche nach Schönheit, fremden Menschen, nach Ausblicken vielleicht, aber es hat nichts zu tun damit, was heute richtige Könner des Alpinismus auf den schwierigsten Routen leisten.
Auch wenn wir auf den Cho Oyu gekommen sind, so würde ich das nicht als eine extreme Leistung, sondern eher als ein harmonisches Vorwärtsdringen in zu der damaligen Zeit noch selten erreichte Höhen beschreiben. Wenn wir uns erinnern an diese Zeit, so bleibt weniger das Extreme, sondern eher die Harmonie und die Schönheit in Erinnerung - der Stunden, der Landschaft und der umgebenden Menschen.
"

Am 26. September 1987 stirbt Herbert Tichy. Zurück bleiben tausende Fotos, Notizen, Briefe und eine Pflanze, die Tichy mit den Stummeln seiner geliebten 3er-Zigaretten gedüngt hat. Doch seine Spuren im Schnee das Himalaya sind für viele Reisende sichtbarer denn je.

Text:
Thomas Rambauske
Bilder:
s/w Urania, Redaktion
Biografie:
Gerhard Schirmers Biografie von Herbert Tichy
Bericht:
Ein topaktueller Bericht von einer Cho Oyu-Besteigung >>>

Herbert Tichy: Cho Oyu -
Die Gnade der Götter

Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der Erstbesteigung des Cho Oyu wurde Herbert Tichys Buch "Cho Oyu. Gnade der Götter" um eine Chronologie der Besteigungsgeschichte des Cho Oyu erweitert und mit einem Vorwort von Heinrich Treichl neu aufgelegt.

Informationen: Edition Sonnenaufgang, Verena Kienast, Tel.: 01/522 72 43, E-Mail: verena.kienast@aon.at

Herbert Tichy Hilde und Willi Senft: Herbert Tichy
Das abenteuerliche Leben des großen Österreichers

2003, Weishaupt Verlag, ISBN 3-7059-0183-4

Hilde und Willi Senft verstehen es perfekt, dem Leben Tichys nachzuspüren, ohne jemals dessen Spuren aus den Augen zu verlieren. "Wir fühlen uns [zu diesem Buch] berufen, weil wir einerseits mit Herbert Tichy persönlich bekannt waren und zum anderen mehr oder weniger unbewusst fast den meisten seiner Spuren auf vielen Reisen gefolgt sind", heißt es im Vorwort.
Im vorliegenden Buch wird das bewegte Leben des Forschers, Bergsteigers, Philosophen und Abenteurers von den beiden Autoren auf spannende Weise lückenlos dargestellt.

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