Was
der Großglockner den Österreichern, den
Schweizern der Dom, der Montblanc
allen Europäern, ist den Italienern der Ortler: Alle müssen
zumindest einmal oben gewesen sein. Dementsprechend geht es an schönen
Tagen am Normalweg auch zu: Ganz Italien belagert Payerhütte
und Ortler, da wird gestaut, gedrängt, geschimpft - pronto!
pronto! -, Profis versammeln sich da mit alpinen Sonntagskletterern,
Südtiroler mit Amerikanern, Wiener mit Römern, kurzum: auf
diesem hochalpinen Pilgerweg geht's richtig "luschtig zua".
Der
Ortler, ein Riesenklotz aus Fels und Eis, der "höchste
Spitz im ganzen Land Tyrol" (Peter Anich, 1774, im Atlas
Tyroliensis), zählt zu den ganz großen Zielen jedes Alpinisten.
So königlich und selbstherrlich er aber auch über dem Suldner
Tal thront, so unnahbar, ja abweisend gibt er sich auch. Er will erschwitzt,
erkämpft, "erobert" werden.
Aufgewärmt
von Monte Cevedale und
Königspitze steigen
wir den 4er-Weg von der SuldenerSt. Gertraud Kirche in
westlicher Richtung langsam hoch, bis wir die Baumgrenze erreichen.
Als wir die Moräne des Marltgletschers überqueren,
bricht ein Teil der Gipfelwächte ab und donnert unter ohrenbetäubendem
Getöse zu Tal. Ein mit vielen Tafeln bestückter Gedenkstein
erinnert an die Opfer unseres Berges. In Kehren hinauf zur weithin sichtbaren
Tabarettahütte,
einer typischen Touristenherberge (1,5-2 Stunden).
Wir
halten uns nicht lange auf, marschieren weiter in nord-westlicher Richtung,
den Fuß der Tabarettawände entlang, dann in steilen
Kehren zur Bärenkopfscharte (2879m) hoch. Über den
Tabarettakamm und das Meer der vielen Ortlergipfel zur Payerhütte
(3020m; 1,5-2 Stunden).
Da
die Payerhütte
vor allem bei Schönwetter chronisch überfüllt ist und wir
nicht vorreserviert haben, finden wir nur mit Mühe ein Bettchen,
und das auch nur, weil wir "Öschterreicher" sind.
Das Abendessen wird in Etappen ausgegeben, den Wein genießen wir
vor der Hütte im Licht der untergehenden Sonne - ein traumhaftes
Erlebnis, für das wir weder Schlange stehen noch zahlen müssen:
Der
Stau beginnt bereits um 5 Uhr morgens vor WC und Frühstücksbuffet.
Um 6 Uhr verlassen wir die Hütte zu einer langen und erlebnisreichen
Tour.
Gleich
südwärts, die Westflanke der Tabarettaspitze querend,
auf jenen Grat, der die "Hohe Eisrinne" nach oben hin
begrenzt. Kurzer Abstieg in eine Scharte und in die Wandln des
Tschirfecks, über versicherte, ausgesetzte Passagen auf
einen kurzen Felsgrat. Hier muss manchmal zugepackt (I-II) werden, auf
und ab, ab und auf, da wimmelt es von Apinisten jeder Couleur und Herkunft
- "Pronto, Pronto!" - "Nich' so drängeln, Mensch!"
- "Please, don't stop, stupid guy!" - "Schleich' di oder
wüst do übanocht'n!" -, a rechte Gaudi, wie bei der Eröffnung
des Winterschlussverkaufs.
Selbst
dieser Normalweg hat es in sich, zumal einem unweigerlich ein
fremder Rhythmus aufgedrängt wird, mitunter ordentliche Abgründe
zu übersteigen (eher alibihafte Ketten bieten nicht wirklich effektiven
Halt), Griffe und Standplätze von Milliarden Italienerschuhen speckig
und blankgescheuert sind.
Nach
etwa 2 Stunden erreichen wir den Oberen Ortlerferner. Etwas nach
Südwesten ansteigend bis zum Fuß des vom Bivacco Lambardi
herabziehenden Felsgrates. Hier erreicht man die Gletschermulde des
Bärenlochs. Über Geröll und Firn oder rechts auf
dem Gletscher zum Lombardi-Biwak (Bivacco Lombardi, 3316m,
Notunterstand), am Grat und über den darauf folgenden, flachen
Gletscher zu einem Steilaufschwung (kann vereist sein! Steigeisen!).
Über diesen auf das ObereOrtlerplatt und zu einem
Sattel, von dort in südlicher Richtung zum Gipfel (3-5 Stunden).
Am
Gipfel halten wir uns nicht lange auf, zumal er der wohl dichtest bevölkerte
Ort der Welt ist und wir vor der nächsten Rückreisewelle wieder
die Kletterei bewältigt haben wollen. Denkste. Auch der Rückweg
eine vollkommen humor- und genusslose Drängerei, für Seitenblicke
auf die uns umgebende Kulisse bleibt kaum Zeit.
Auf
der Veranda der nun seltsam stillen Payerhütte
spülen wir uns den schalen Nachgeschmack dieser Tour
mit kühlem Weizenbier von der Seele (vom Gipfel zur Hütte:
3 Stunden) - auch net schlecht ...
Payerhütte - Sulden
3 Stunden
Der
Rückweg gleicht dem Aufstiegsweg von gestern.
Tipps und wichtige Hinweise:
Da die Payerhütte
an chronischer Verstopfung leidet, unbedingt vorreservieren -
sonst: Stufe 34a-36b!
Bei
schlechter Sicht unter Umständen am Oberen Ortlerfernerschwierige Orientierung.
Die
Kletterei von der Payerhütte
bis zum Ortlergletscher sollte aus folgenden Gründen nicht unterschätzt
werden: Die Griffe und Stufen sind blankgescheuert und rutschig; durch
den regen Verkehr erhöhte Steinschlaggefahr (Helm!); der
durch das Gedränge aufgezwungene Rhythmus kann schwerwiegende
Fehler verursachen ...
Der
Ortlergletscher präsentiert sich im Sommer manchmal vereist
und nach Neuschneefällen lawinengefährdet.
Wer
den Ortler wirklich genießen will und den 4. Klettergrad beherrscht,
sollte über den Hintergrat (III-IV) von der Hintergrathütte
aus aufsteigen! Oder man wählt ruhigere (Wochen-)Tage, wenn kein
großer Ansturm zu erwarten ist.
Wie
überall in der Ortlergruppe (siehe auch Königspitze
und Monte Cevedale),
ist auch am Ortler der komplette Bergsteiger gefragt,
der mit felsigem und eisigem (Gletscher-)Terrain gleicher Maßen
gut zurechtkommt.
Wissenswertes:
Im schrecklichen Gebirgskrieg 1915/18 befand sich auf der
Gipfelfläche des Ortlers der höchstgelegene Kriegsschauplatz,
wobei jedoch der eigentliche Gipfel unbesetzt blieb.
Die Erstbegehung des hier vorgestellten Normalweges
gelang im September 1864 durch Headlam.
Die Payerhütte
wurde 1875 durch die Sektion Prag eröffnet, um den vielen
Ortler-Aspiranten einen effektiven Stützpunkt zu schaffen.
Die Erstbesteigung gelang Josef Pichler und
seinen Gefährten am 27.9.1804 - ohne Pickel und Seil über
die "Hinteren Wandeln" des SW-Seite.
Karten:
Freytag & Berndt WKS 6, Ortlergruppe, Martell, Val di
Sole, 1:50.000