8.
Tag
Lager
3 (6800m) - Gipfel (7546m) - Lager 2 (6050m)
HM:
700m/GZ-Aufstieg: 4,5 Stunden - Abfahrt: 2 Stunden
Erstmals
ist es gelungen, das Innere eines Whiteouts zu fotografieren
(von l. n. r.: Hubert, Thomas, nein - Hubert, dann Thomas oder links
Thomas ...?) ...
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Gipfel und Limit erreicht ...
Mein
Wecker hätte um 5 Uhr nicht läuten müssen, habe ich doch
keine Sekunde geschlafen. Ein Blick hinaus: Schneeschauer, Gipfel ade.
Eine Stunde später hört es plötzlich zu schneien auf,
ich blase zum Aufstehen. Unwilliges, heiseres Gebrumme aus den Wigwams,
keiner will auf und weiter - ganz natürlich in dieser Höhe.
Da ist keinerlei Motivation mehr, nur der Befehl, der Wille, den man
sich zu Hause schon einprogrammiert hat: DU MUSST DEN GIPFEL ERREICHEN!
Und nur dieser Befehl ist es, der uns aus den Schlafsäcken holt.
Müde
werfe ich den Kocher an - und weiß, es würde viel zu wenig
Zeit sein, genug Flüssigkeit für ALLE und für DIESEN
langen Gipfeltag herzustellen. Philip hat Schwierigkeiten, in seine
tiefgefrorenen Skischuhe zu kommen. Verzweifelt flucht er vor sich hin.
Gegen 7 Uhr brechen wir auf - jeder mit gerade einem halben Liter Tee
in der Flasche - eigentlich ein Wahnsinn in dieser Höhe, wo man
mit jedem Atemzug ungemein viel Körperflüssigkeit verliert.
Aber was soll's, noch geht es uns gut, noch ...
Anfangs über steilere Aufschwünge, die Sonne hat sich noch
nicht durch die Wolken gekämpft, es ist saukalt, Finger und Zehen
frieren. Hubert muss stehenbleiben, die Schuhe ausziehen, um sie im
Rucksack aufzutauen (tatsächlich werden seine Zehenspitzen weiß
und gefühllos bleiben). Nach etwa einer Stunde gibt Philip auf:
Seine Finger drohen zu erfrieren, weil er einen schwerwiegenden Fehler
begangen hat, nämlich seine vom Vortag feuchten Handschuhe nicht
in den warmen Schlafsack mitgenommen zu haben. So drohen seine Finger
in den eisigen Handschuhen zu erfrieren. Der Augenarzt, dessen Hauptwerkzeug
die Finger sind, trifft die wohl vernünftigste Entscheidung seines
Lebens und steigt ab.
Wir
drei trotten weiter. Der Hang wird flacher, zieht sich endlos, endlos
in die Länge. In den dichten Wolkenfeldern, die sich wie Nebel
über uns legen, hanteln wir uns von Fahne zu Fahne weiter, andere
Spuren oder Anhaltspunkte gibt es nicht.
Einmal
glaube ich in der Ferne einen Körper liegen zu sehen - die Leiche
des vermissten Chinesen? Ich gehe weiter, ahnend, dass die Phantasie
in dieser Höhe mitunter makabre Spiele treiben kann.
Nach
etwa 2,5 Stunden bricht endlich die Sonne durch, wärmt ein wenig,
taut uns äußerlich und innerlich auf. Unsere kleine Karawane
legt Tempo zu, Hubert immer voraus in gleichmäßigen Bewegungen,
Günther mit seinen Schneeschuhen - 15 Schritte flott dahintrippelnd,
5 Minuten verschnaufend - weiter trippelnd - ein seltsamer Stil. Ich
selbst langsam, sehr langsam dahintrottend, tief, sehr tief Atem holend,
über die Stöcke gebeugt ausruhend, weiter, weiter, step by
step ... Nach 4 Stunden blicken wir auf unsere Höhenmesser - 7.200m,
das kann nicht sein, in vier Stunden nur 400 Höhenmeter!? "Wir
marschieren sicher noch drei Stunden", meint Hubert verbissen.
"In dieser Höhe spielen die Höhenmesser verrückt",
halte ich dagegen, "wir müssen bald da sein!"
- Worte, die wohl eher meinem eigenen Trost gelten.
Nach
30 Minuten taucht rechts von uns ein Felsen auf, dann, wenige Minuten
später, ein kleiner Steinhügel - der Gipfel! Höher geht
es nicht mehr. Der höchste Punkt des Mustagh Ata, 7.546m,
des 49-höchsten Berges der Welt ist erreicht! Wir haben es geschafft,
das tägliche Training, die Schinderei, die Vorbereitung, die schlaflosen
Nächte, die Investitionen, die Träume und Hoffnungen - nicht
umsonst! Wir haben hoch gepokert und die erste Runde gewonnen!
Whiteout
...
Schnell
ein paar Gipfelfotos und ab durch die Mitte. Einen 7000er per Ski abzufahren,
ist ein traumhaftes Gefühl! Allerdings erweist sich die Abfahrt
am Mustagh Ata als DAS Kriterium der gesamten Tour schlechthin:
brettlharter Bruchharsch, der schwere Rucksack am Buckel, durstig und
erschöpft vom Aufstieg. Mit brennenden Wadln schleifen wir mehr
bergab, als wir fahren. Kein Vergnügen, kaum ein Schwung, der nicht
mit einem Sturz endet.
Im
unteren Bereich verdichtet sich der Nebel zu einem "Whiteout",
sprich: wir sehen nichts mehr, alles dreht sich, manchmal wissen wir
nicht einmal, ob wir stehen oder fahren. Langsam tasten wir uns von
Fahne zu Fahne, ein Schwung, dann wieder einer, wir gehen ans Limit,
verbrauchen die letzten Reserven, um gerade noch zu Lager 3 zu
gelangen. Dort ist es aber noch nicht zu Ende.
Wissend,
dass eine zweite Nacht in solcher Höhe böse enden kann, packen
wir nach einer kurzen Rast das Zelt zusammen und beginnen die letzte
Etappe in Richtung Lager 2. Mit den letzten Reserven also weitere
700 Höhenmeter hinabgetastet, in den Beinen ist längst keine
Kraft mehr, ich habe Angst, mir irgendetwas zu brechen oder zu reißen,
ein Sturz mit dem 25kg-Pinkerl am Rücken hätte fatale Folgen,
weder Hubert noch Günther (noch ich) hätten die Kraft für
eine Rettungsaktion.
Bei
den Zelten angekommen, sehen wir am Hang über uns, dass Günther
seinen Rucksack abgeworfen hat und bergauf stürmt. Hubert läuft
ihm nach, brüllt, was er denn vorhabe - er wolle nach Hause,
antwortet Günther. Vollkommen am Ende weiß er nicht mehr,
was er tut.
Der
Flüssigkeitsmangel und die damit verbundene Dehydration (Austrocknung)
- ein halber Liter für den ganzen Tag - macht sich bei uns auf's
Schlimmste bemerkbar: Mein Magen verkrampft sich, ich behalte nicht einmal
mehr den kleinsten Schluck Tee, Günther liegt lethargisch im Zelt,
ist kaum mehr ansprechbar - wir haben mit unserer Geschwindigkeit eine
Grenze überschritten, die wir nicht hätten überschreiten
dürfen. Wir haben uns dermaßen verausgabt, dass ein zweiter
Versuch tatsächlich unmöglich gewesen wäre. Noch eine Woche
nach unserer Höllentour fällt es uns schwer, aus dem Zelt zu
kriechen, geschweige denn ein paar Schritte bergauf zu gehen, ohne erschöpft
aufgeben zu müssen. |
9.
Tag
Lager
2 (6800m) - Lager 1 (5400m)
Abfahrt:
2 Stunden
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Der
Preis des "Spiels"
Die
Nacht in Lager 2 verbringen wir mehr schlecht als recht, aber egal,
es wartet nur mehr die Abfahrt durch den Eisbruch zu Lager
1.
Wie
verwirrt Günther ist, sehen wir am nächsten Morgen, als er
beginnt, sich mit Schnee die Haare zu waschen. Ein Signal, so schnell
wie möglich das Weite zu suchen. Der Schnee erweist sich auch zwischen
L2 und L1 als unfahrbar. Mir, der ich nun den zweiten Tag ohne einen
Tropfen Flüssigkeit unterwegs bin, fällt jeder Schwung unendlich
schwer, die "Abfahrt" besteht nicht aus "Fahrt",
sondern aus einer Aneinanderreihung von Stemmbögen und Stürzen.
Bloß sich nicht verausgaben, bloß nichts brechen oder reißen!
Das Sauerstoffdefizit lässt sich auch mit tiefsten Lungenzügen
nicht mehr ausgleichen. Möchte die Ski am liebsten irgendwo liegen
lassen, mich hinsetzen und schlafen.
Als
wir uns endlich Lager 1 nähern, keimt erstmals Erleichterung
und Freude auf - wir haben es geschafft, jetzt kann nichts mehr passieren,
wir haben auch die zweite Runde des riskanten Spiels gerade noch gewonnen
- wenngleich um einen nicht geringen Preis: Huberts erfrorene Zehen
bleiben, wie auch Philips Fingerspitzen, weiß und gefühllos;
Günther wird sich lange nicht erholen, hat sich verändert,
ist schweigsam geworden und wird von Hustenanfällen und schwerer
Atemnot geplagt; mein Magen wird sich lange nicht beruhigen. Allesamt
sind wir um Jahre gealtert.
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